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Wie entstehen Ebbe und Flut? Was Mond und Sonne mit den Gezeiten zu tun haben

Meine Leserin Christine hat nach den Gezeiten gefragt: Wie kommen Ebbe und Flut zustande? Dazu eine kleine Reise in die Vergangenheit…

Oktober 2001, Nordsee-Insel Juist. Ich habe mit meiner Familie vor Beginn meines Chemiestudiums noch ein paar Tage Ferien am Lieblingsferienort meiner Kindheit verbracht. Oder verbringe sie noch. Denn obgleich unsere Abreise für heute angesetzt war, heisst es von der Fährgesellschaft, die uns aufs Festland bringen sollte: „Wir fahren heute nicht. Zu wenig Wasser im Watt.“

Die Fährverbindung von und nach Juist ist nämlich gezeitenabhängig. Das heisst, das Schiff kann nur dann über das Wattenmeer fahren, wenn genügend Wasser da ist. Gewöhnlich ist das zweimal am Tag der Fall. Nur an jenem Tag machte uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Der Wind sorgte dafür, dass die ohnehin schon niedrige Tide noch niedriger ausfiel. So sind wir dann einen Tag länger im Feriendomizil geblieben. Dann hat die Fährgesellschaft die Überfahrt auf einem Umweg bis fast nach Norderney – schliesslich doch gewagt.

Was sind Gezeiten oder Tiden?

Der Fachbegriff für Gezeiten ist Tiden (Einzahl Tide). Mit Gezeiten meinen wir das Phänomen, dass in vielen (wenn nicht allen) Küstenregionen der Verlauf der Uferlinie bzw. der Meereshöhe über den Tag hinweg mehr oder weniger stark schwankt. Besonders deutlich wird das an der Nordsee, die ein offener, flacher Ausläufer des atlantischen Ozeans ist. Hier fällt zweimal am Tag quadratkilometerweise schlammiger Wattenmeer-Boden trocken! (Im Hafen von Juist unterscheiden sich der höchste und niedrigste Wasserstand um bis zu 3 Meter!)


Auch im Mittelmeer gibt es Gezeiten – die fallen aber nicht so krass aus: Der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser beträgt hier in Chania auf Kreta nur rund 60cm. Auf dem Bild ist der Wasserstand aber eher niedrig. Bei Hochwasser ist das Felseninselchen in der Mitte überflutet!

Ebbe und Flut

So lange der Wasserpegel sinkt bzw. die Uferlinie sich zurückzieht spricht man im deutschen Sprachraum von „Ebbe“. Wenn der Pegel steigt bzw. die Uferlinie sich landeinwärts verschiebt, von „Flut“. Der höchste Pegelstand eines Halbtages ist „Hochwasser“, der niedrigste Pegel „Niedrigwasser“. Die Differenz zwischen Hoch- und Niedrigwasser ist der Tidenhub.

Wohin verschwindet bei Ebbe das Wasser?

Es „verschwindet“ natürlich nirgendwo hin – stattdessen häuft es sich an einem Ort fern der Küste an. Moment – wie kann sich eine Flüssigkeit anhäufen? Die sollte sich doch so gleichmässig wie möglich auf der Erdoberfläche verteilen! Das wegen der Gravitation, die von überall auf der Erdoberfläche in Richtung Erdmittelpunkt wirkt.

Wer missachtet da also die Physik?

Niemand! Vielmehr gibt es noch zwei nicht ganz kleine Details zu beachten: Den Mond und die Sonne! Der Mond ist zwar nur 1/100 mal so schwer wie die Erde, aber damit immer noch ein beachtlicher Himmelskörper. Das bedeutet, er erzeugt eine erhebliche eigene Gravitation. Die hat zur Folge, dass nicht – wie gerne behauptet – der Mond um die Erde, sondern beide Himmelskörper um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreisen.

Da die Erde der deutlich grössere Partner in diesem Tanz ist, liegt dieser Schwerpunkt nicht all zu weit vom Erdmittelpunkt. Anders als der Mond beschreibt die Erde daher keine eigene Kreisbahn, die grösser als ihr Durchmesser wäre. Stattdessen „eiert“ sie bloss um ihre Position in der Mitte.

Mini-Experiment: Gezeiten im Glas – Was halten Flüssigkeiten von diesem Eiertanz?

Füllt ein Glas halb mit Wasser und bewegt es zügig auf der Tischplatte oder in der Luft hin und her. (Probiert das draussen oder über wasserfestem Boden/Tischbelag!) Was passiert mit dem Wasser? Es schwappt im Glas herum – und wenn ihr zu ungestüm werdet, schwappt es über! Das passiert auch, wenn ihr das Glas im Kreis bewegt.

Vom Tanz im Glas zum Tanz der Himmelskörper

Mit der Erde ist es das gleiche. Der Eiertanz unseres Planeten mit dem Mond lässt die Ozeane auf der Oberfläche der Erdkugel herumschwappen. Wenn dabei Wasser von der Küste wegschwappt, erleben wir dort Ebbe, schwappt es hingegen auf die Küste zu, erleben wir Flut. Die Grösse des Tidenhubs hängt dabei von der Form der Meeresküsten und ihrer Verbindung zu den grossen Ozeanen ab. Denn diese beiden Eigenschaften bestimmen die Bewegungsmöglichkeiten für das schwappende Wasser.

Aufgrund der gewaltigen Grösse des Erde-Mond-Systems und der recht präzise eingehaltenen Kreisbahnen ist dieses Schwappen zum Glück sehr regelmässig. So können wir sehr genau berechnen, wann wo wieviel Wasser zu erwarten ist. Ein Gezeitenkalender für den Küstenort unserer Wahl gibt uns darüber Auskunft.

Warum gibt es zweimal täglich Hochwasser?

Für eine vollständige Drehung um den gemeinsamen Schwerpunkt brauchen Erde und Mond knapp einen Monat. Das macht das eigentliche Schwappen durch den Eiertanz zu einer sehr, sehr gemächlichen Angelegenheit. Allerdings dreht sich die Erde zusätzlich um ihre eigene Mittelachse – und braucht für eine Umdrehung dieser Art etwa einen Tag.

Da das Wasser der Meere jedoch nicht fest mit der Erdoberfläche verbunden ist, dreht es sich nicht vollständig mit. Stattdessen dreht sich der Planet unter seiner Wasserhülle hindurch. Dabei muss das Wasser natürlich um die Kontinente herum fliessen. Das führt mitunter zu Stau und damit mancherorts zu besonders grossem Tidenhub).

So dreht sich der Küstenort unserer Wahl binnen eines Tages unter der dank des Eiertanzes hochgeschwappten „Welle“ hindurch. Damit ist ein Hochwasser pro Tag erklärt. Aber woher rührt das zweite?

Addition von Kräften

Die Gezeitenkräfte (die das Wasser zum Schwappen bringen) setzen sich aus zwei verschiedenen Kräften zusammen. Die erste ist die Gravitationskraft, die der Mond bewirkt. Die zweite ist die Zentrifugalkraft, die durch den Eiertanz der Erde um den gemeinsamen Schwerpunkt („Baryzentrum“) entsteht.

Eine Kraft ist eine gerichtete Grösse, hat also sowohl einen Wert als auch eine Richtung. Die Physiker stellen beides gemeinsam als Vektor („Pfeil“) dar. Solche Vektoren kann man addieren, indem man die Pfeile Spitze an Schaft aneinander legt. Dann zeichnet man von der vordersten Spitze zum hintersten Schaft einen neuen Vektor. Dieser entspricht dann Länge und Richtung der Summe aller ursprünglicher Vektoren.

So addiert man Vektoren - auch für Gezeiten-Kräfte - Schaft an Spitze und ein neuer Vektor von ganz  hinten nach ganz vorn
Wirken gleichzeitig Kraft a und Kraft b auf einen Gegenstand, bekommt dieser die Summe der beiden, a+b, zu spüren. In diesem Beispiel ist der Betrag dieser resultierenden Kraft (= die Länge des Pfeils) kleiner als jede der ursprünglichen Kräfte!

Wenn man nun für einen Ort Mond-Gravitationskraft und Zentrifugalkraft berechnet und die zwei Vektoren addiert, erhält man die dortige Gezeitenkraft. Mit einer regelmässig verteilten Auswahl an Punkten auf der Erdkugel sieht das in etwa so aus:

Für die Gezeiten verantwortliche Kräfte ermittelt durch Vektoraddition: Dank Zusammenspiel von Gravitation und Fliehkraft bildet sich auf beiden Seiten des Planeten je ein Flutberg!

Als „Schwerpunkt“ ist hier der Erdmittelpunkt markiert. Das „Baryzentrum“ ist der gemeinsame Schwerpunkt, um den Erde und Mond kreisen. (de:Benutzer:Dringend, bearbeitet von Lämpel [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons )

Die Gravitationskraft ist um so stärker, je näher der sie auslösende Körper ist. So wirkt die Mond-Gravitation auf der dem Mond zugewandten Seite (im Bild rechts) stärker als auf der ihm abgewandten Seite. Gleichzeitig sind die Zentrifugalkräfte auf der Mond-Seite schwächer als auf der mondabgewandten Seite. Denn die Mond-Seite ist dem gemeinsamen Schwerpunkt = Baryzentrum näher. So ergeben sich sowohl für die Mond-Seite als auch für ihr genaues Gegenüber Gezeitenkräfte, die alles andere als Null sind und von der Erde weg weisen!

Durch den Eiertanz schwappt also nicht nur eine „Welle“ auf, sondern zwei, die einander genau gegenüber liegen. So dreht sich unser Küstenort binnen eines Tages nicht nur unter einem, sondern unter zwei Wellenbergen hindurch – und wir erleben zweimal Flut und zweimal Ebbe.

Extrem-Gezeiten: Was sind Springflut und Nippflut?

Habt ihr schon einmal längere Ferien am Meer verbracht hat oder lebt ihr sogar dort? Dann habt ihr wahrscheinlich schon beobachtet, dass der Pegel bei „Hochwasser“ nicht immer gleich hoch ist. Stattdessen schwankt er in einem etwa monatlich wiederkehrenden Muster. Wie kommt das?

Gezeiten durch Sonnenkraft

Hier kommt das zweite gar nicht kleine Detail ins Spiel: Die Sonne. Die ist zwar gewaltig viel grösser als die Erde (333’000 mal!) und erzeugt so eine sehr, sehr viel grössere Gravitation. Dafür ist sie aber viel, viel weiter weg als der Mond. Insgesamt wirkt jedoch auch die Sonne sehr anziehend auf das Wasser der irdischen Meere. So verursacht auch sie Gezeitenkräfte – immerhin mit 46% der Stärke der Kräfte durch den Mond.

Addiert man nun die Sonnen-Gezeitenkräfte zu den Mond-Gezeitenkräften, zeigt sich, dass die Gesamt-Gezeitenkräfte dann am grössten sind, wenn Sonne, Erde und Mond in einer Linie stehen. Denn dann weisen alle beteiligten Kraftvektoren an jedem Punkt in dieselbe Richtung.

Überblick über die Mondphasen: Sonne, Erde und Mond in den wichtigsten Positionen zueinander (nicht massstabsgetreu)
Übersicht über die Mondphasen und Gezeiten: Dank Trägheit folgt erst kurz nach Neu- und Vollmond eine Springflut und kurz nach Halbmond eine Nippflut.

Stehen Sonne und Mond dabei auf gegenüberliegenden Seiten der Erde, sehen wir den Mond vollständig beleuchtet – es ist Vollmond (es sei denn, unser Standort liegt mit Sonne, Mond und der Erde im Rücken exakt auf einer Linie – dann gibt es zusätzlich eine Mondfinsternis und der Mond erscheint rot). Stehen Sonne und Mond hingegen auf der gleichen Seite der Erde, „sehen“ wir nur die Nachtseite des Mondes – also gar nichts: Es ist Neumond (es sei denn, der Mond gerät exakt zwischen die Sonne und unseren Standort – dann gibt es zusätzlich eine Sonnenfinsternis).

Da die schwappenden Gezeiten zusätzlich der Trägheit unterliegen, hinken sie der Position (oder „Phase“) des Mondes stets ein wenig hinterher. So gibt es kurz nach Neumond und kurz nach Vollmond eine Springflut – ein besonders hohes Hochwasser. Kurz nach zu- bzw. abnehmendem Halbmond gibt es hingegen eine Nippflut – ein besonders niedriges Hochwasser. Dann nämlich weisen die Richtungen der Sonnen- und Mond-Gezeitenkräfte den grösstmöglichen Unterschied (90°) auf.

Wie der Mond den Fährbetrieb bestimmt

Das Meer zwischen der ostfriesischen Insel Juist und dem Festland ist selbst bei hohem Pegel so flach, dass die Fährschiffe von der und zur Insel nur in wenigen Stunden rund um das Hochwasser verkehren können. So richtet sich der Fahrplan der Fähre nach Juist und anderen gezeiten-abhängigen Inseln nach dem Gezeitenkalender. Das macht eine auf den Tag genaue Planung der Reise dorthin nötig. Denn da eine Erdumdrehung nicht exakt einen Tag und ein Mondumlauf nicht genau einen Monat dauert, verschiebt sich der Zeitpunkt von Hoch- und Niedrigwasser jeden Tag ein wenig.

Zudem empfiehlt es sich, solch eine Überfahrt zu Voll- oder Neumond zu planen und nicht zu Halbmond. Sonst sitzt man nämlich bei ungünstigem Wetter schonmal auf dem Trockenen.

Nach einem Blick in einen Mondkalender für den Oktober 2001 vermute ich, dass unsere Rückreise von Juist kurz nach dem 10. Oktober angesetzt war. An diesem Tag war nämlich der erste Halbmond des Monats zu sehen. So war kurz darauf dank Nippflut besonders wenig Wasser im Watt. Der Wind vom Land hat dieses Wenige um so mehr aufs Meer hinaus gedrückt, sodass unsere Fähre kurzerhand den Betrieb einstellen musste, um nicht auf Grund zu laufen.

Und was ist eine Sturmflut?

Da die Bewegungen von Erde und Mond in regelmässigen, sich stets wiederholenden Bahnen verlaufen, halten auch die Gezeiten einen festen, berechenbaren Rahmen ein: Der Tidenhub ist begrenzt. Das heisst, wir müssen uns keine Sorgen machen, dass unsere Meere des Eiertanzes der Himmelskörper wegen überschwappen könnten.

Anders hingegen sieht es mit dem Wetter aus. Auch der Wind bewegt das Wasser – und kann nicht nur eine Nippflut ins Extreme treiben, sondern auch umgekehrt das Wasser regelrecht an Land drängen. Wenn also ein richtiger Sturm aus Richtung See aufkommt, kann das Meer in dramatischer Weise „überschwappen“ und an Land verheerende Schäden anrichten. Die Bewohner der tropensturmgeplagten Gebiete im Südosten der USA, Südostasiens und Nordostaustraliens können ein langes Lied davon singen.

Solch ein wetterbedingtes „Überschwappen“ – das weitestgehend unabhängig von den Gezeiten auftritt – nennen die Küstenbewohner eine Sturmflut.

Spiel-Tipp für kleine und grosse Forscher am Strand: Sandboot-Bauen!

Empfohlene Ausrüstung: Sandschaufeln (mit langem Stiel für die Grossen), Eimer zum Schöpfen, kurze Beinkleider oder Badekleidung!

Wenn ihr bei beginnender Flut an einem Strand mit ausreichend grossem Tidenhub seid, schaut euch einmal nach dem frischsten Spülsaum um. Das ist die Linie aus Muscheln und anderem Strandgut, die die Uferlinie zur Zeit des letzten Hochwassers markiert. Bis hierhin (plusminus wenige Zentimeter) wird auch die gerade kommende Flut steigen.

Sucht euch einen Flecken zwischen diesem Spülsaum und der aktuellen Uferlinie. Wenn ihr weniger Zeit aufwenden möchtet, geht näher zum Wasser, wenn ihr mehr Zeit habt, etwas näher zum Spülsaum. Aber nicht zu nahe, sonst wird die Sache langweilig! Schaufelt hier eine „Sandburg“ – einen in sich geschlossenen Sandwall in Bootsform mit dem Bug zum Meer, innerhalb dessen ihr alle Platz findet. Legt den dabei entstehenden „Burggraben“ um das Sandboot aussen herum an – er wird euch noch von grossem Nutzen sein.

Wenn das steigende Wasser schliesslich euer Sandboot erreicht, versucht, es so lange wie möglich gegen die Flut zu verteidigen und das Wasser ausserhalb der Wälle zu halten. Verstärkt dazu z.B. die Wälle verstärkt und schöpft steigendes Grundwasser aus dem Boot. Sobald das Wasser in den Graben um das Boot läuft, steigen dazu alle ein und keiner wieder aus! Wie lange haltet ihr „an Bord“ durch, ehe euer Boot „untergeht“?


Sandboot-Bau als Wettbewerb

Das Ganze kann natürlich auch mit zwei Mannschaften und zwei Sandbooten als Wettstreit gespielt werden: Die Mannschaft, welche länger durchhält, gewinnt!

Wenn ihr das Ganze während eines längeren Urlaubs immer wiederholt, werdet ihr bald ein Gefühl für den Tidenhub und die „spannendste“ Position des Bootes an „eurem“ Strand entwickeln.


Und was habt ihr mit den Gezeiten schon erlebt? Kennt ihr Juist oder eine andere gezeitenabhängig erreichbare Insel?

Robert Hofrichter : Im Bann des Ozeans - Expeditionen in die Wunderwelt der Tiefe

Dieser Artikel enthält Affiliate-Links aus dem Amazon-Partnerprogramm (gekennzeichnet mit (*) – (*) ) – euch kosten sie nichts, mir bringen sie vielleicht etwas für meine Arbeit ein. Ich habe für diese Rezension ein Rezensionsexemplar des Buches erhalten. Es besteht kein Interessenkonflikt hinsichtlich des Inhalts in diesem Beitrag und dessen Publikation.

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1’337’323’000 Kubikkilometer – so viel Wasser enthalten die Ozeane dieser Welt. Gigantische Badewannen, die nicht nur Künstler und Poeten, sondern vor allem Meeresforscher und Biologen faszinieren. Robert Hofrichter ist einer von ihnen. Hier erzählt er die spannendsten Geschichten aus dem nassen Kosmos, der die Erde umgibt.

Auch auf mich hat das Meer schon immer seine unwiderstehliche Faszination ausgeübt. Ob als Kleinkind beim Strandurlaub, als Teenager bei der Erkundung von Watt und Stränden der Nordseeinsel Juist oder in jüngsten Jahren auf Reisen zu fernen Ozeanen, schon immer hatte das Meer einen besonderen Stellenwert in meinem Naturforscherleben.

So fiel mir diese Neuerscheinung rund um den wohl grössten Lebensraum der Erde (rund 70% unseres Planeten sind mit Wasser bedeckt!) gleich ins Auge. Schliesslich habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, euch einen spannenden, für jedermann verständlichen Zugang zu Natur und Wissenschaft zu bieten. Da lasse ich mir gerne von einem Fachmann für diesen ebenso lebenswichtigen wie atemberaubenden Teil der Natur unserer Welt „helfen“. Denn ich teile Hofrichters Ansicht, dass Begeisterung der Grundstein nicht nur für das Verstehen der Natur, sondern auch der Notwendigkeit wie auch der Fähigkeit sie zu schützen ist.

Und vorweg kann ich sagen: Dieses Buch ist wirklich geschaffen, um jedermann ohne Vorkenntnisse zu begeistern – und zugleich habe selbst ich mit – so glaubte ich – umfassenden Vorkenntnissen das Buch regelrecht verschlungen, weil es immer wieder neues zu lernen gab.

Zum Inhalt des Buches

Wie oft schon habe ich in der Buchhandlung oder einer Bibliothek die ersten Seiten eines Buchs überflogen, um einen Eindruck zu gewinnen, ob das Werk in meiner Hand mir zusagen zu können. Hofrichter mag dieses Verhalten stöbernder Bücherwürmer vor Augen gehabt haben, als er das erste Kapitel aus kurzen Appetithäppchen zu allen später ausführlicher behandelten Themen zusammengesetzt hat. Und Themen und Geschichten rund um die Meere gibt es so viele, dass sie weit mehr als 240 Seiten füllen könnten.

Die äussere Gestalt der Weltmeere

Hofrichter erzählt uns, wie unsere Meere entstanden sind und woher nach aktueller Meinung der Wissenschaft all das Wasser auf unserem Planeten eigentlich kommt, von der Plattentektonik und der Veränderlichkeit der Ozeane. Er erklärt uns, wie die Gravitation dafür sorgt, dass der Meeresspiegel bei Weitem nicht glatt ist, sondern zu der verbeulten Kartoffelgestalt beiträgt, in der wir die Erde zuweilen in heutigen TV-Dokumentationen bewundern können.

Wir können von Monsterwellen und ihrer Entstehung lesen, erfahren, warum tiefe Meere selbst bei schlechtem Wetter blau erscheinen und vom gewaltigen Ausmass und der Bedeutung von Meeresströmungen.

Die physikalische „Gestalt“ der Meere ist die Grundlage für eine schier unüberschaubare Vielfalt an Leben. Von deren Ursprüngen erfahren wir auf der Reise zurück in die Erdgeschichte, auf welcher Hofrichter die Erklärung nach heutigem wissenschaftlichen Stand für einen berüchtigten „Sprung“ in der Evolution – die präkambrische Explosion (d.h. der Entstehung äusserst vielfältigen Lebens in geologisch extrem kurzer Zeit) – liefert.

Kuriositäten des Lebens im Wasser

Stellvertretend für die heutige Vielfalt in den Weltmeeren (die wohl niemals in einem einzigen Buch Platz fände) stellt Hofrichter in den folgenden Kapiteln ein wahres Kuriositätenkabinett zusammen – voll bin bizarren Sexualpraktiken, Schönheitssalons für Fische, farbenfroher Unterwasser-Grossstädte und den wohl giftigsten Gesellen, denen Mensch im und am Meer (besser nicht) begegnet.

Ein eigenes Kapitel ist den Mythen rund um Seeungeheuer von der Antike bis zu Jules Verne und ihren realen Vorbildern sowie bereits ausgestorbenen aber vormals sehr wirklichen Monstern der Meere gewidmet. Besonders vehement räumt Hofrichter anschliessend mit dem verbreiteten Bild der wahren heutigen „Ungeheuer“ der Meere auf: Statt von freundlichen, hilfsbereiten und sensiblen Flippern berichtet der Meeresbiologe von unserem heutigen Wissen um sexgeile, bekiffte und kindsmordende Delfine.

Schliesslich geht es tief hinab in die unauslotbare Schwärze der Tiefsee. Auf einer Reise durch die verschiedenen Schichten der Ozeane stellt Hofrichter uns die skurrilsten Lebensformen vor, die ewige Nacht und unvorstellbaren Umgebungsdruck meistern. So dringt er mit uns dahin vor, wo noch kein Mensch zuvor gewesen ist (und das ist weder auf dem Mond – da waren schon 12 – noch auf dem Grund der tiefsten Tiefsee – da waren immerhin drei Menschen), sondern bis zu 2000 Meter tief im Boden darunter. Dort gibt es nämlich nach heutigem Wissensstand immer noch Leben!

Das weckte bei mir anlässlich einer kürzlich gessehenen Dokumentation über den Saturnmond Enceladus, auf welchem es möglicherweise flüssiges Wasser geben soll, Fantasien…

Das Meer auf unseren Tellern

Im Gegensatz zu mir bleibt Hofrichter jedoch auf der Erde und in ihren Meeren. So geht er schliesslich auf die Nutzung von Meeresfrüchten durch Menschen im Laufe der Geschichte ein, die schon früh Züge einer Ausbeutung der nur scheinbar unendlichen Nahrungsquelle Meer angenommen haben. Von prähistorischen Robbenjägern und -sammlern über antike Heilmittel und römische Modeerscheinungen reicht dieser Bogen bis zur teils fragwürdigen kulinarischen Vielfalt von heute:

Ob nun aus Glauben an potenzfördernde Kräfte, Geltungssucht, Tradition oder schlichter Notwendigkeit: Heute wird gefühlt alles gegessen, was aus dem Meer kommt. Und wenn ich „alles“ schreibe, dann meine ich alles. Da erscheint mir auch die Zukunftsprognose nicht rosig, dass ausgerechnet Quallen ein Grundnahrungsmittel der Zukunft sein könnten.

Ein Blick in die Zukunft

Der Zukunft ist dann auch das letzte Kapitel des Buches gewidmet. Obwohl ich mich nach der Überleitung auf grosse Ernüchterung gefasst machte, kommt dieses Kapitel letztlich erfrischend optimistisch daher. So stellt Hofrichter zunächst fest, was nicht zu leugnen ist: Die Welt ist im Wandel – und in vielen Belangen nicht so, wie es uns wohl bekäme. Nichts desto trotz stehe es uns aber frei, wie wir diesem Wandel begegnen.

Die aus Jørgen Randers‘ Werk „2052“ zitierten „Ratschläge für ein besseres, nachhaltigeres und glücklicheres Leben“ dazu erscheinen auf den ersten Blick bizarr, auf den Zweiten jedoch um so schlüssiger. Kurzum: Wir mögen unser Möglichstes tun, um die Wunder unserer heutigen Welt zu bewahren, und uns ebenso auf eine Zeit vorbereiten, in welcher es immer weniger davon gibt.

Hofrichter und ich an der Adria

So schildert Hofrichter lebhaft, wie die Unterwasserwelt der Adriaküste im Laufe seines Lebens, von seiner Kindheit in den 1960er Jahren und während seiner Karriere als tauchender Meeresbiologe bis heute in erschreckender Weise verarmt ist. Ganz besonders kann ich diesen Abschnitt nachempfinden, da ich selbst Anfang der 2000er Jahre den überwältigenden ersten Kontakt mit der farbenfrohen Vielfalt im klaren Wasser eben dieser Region (okay, nicht direkt vor Istrien, aber doch nur ein überschaubares Stück weiter südlich auf Höhe der Insel Pag) erlebt habe.

So weiss ich nicht, was mir schwerer fällt: An die dramatischen Veränderungen in den letzten 50 Jahren zu glauben oder mir vorzustellen, was sich der Generation Hofrichters und damit meiner Eltern in ihrer Jugend dargeboten hat. Eines wird dabei aber in jedem Fall deutlich: Es ist unendlich wichtig, dass wir jenen zuhören, die noch davon zu erzählen wissen.

Zum Schluss: Hoffnung

Denn zuende geht die atemberaubende Reise „im Bann des Ozeans“ aber mit einem Grund zur Hoffnung. Laut Hofrichter sei es nämlich denkbar einfach, die Landschaften der Meere zu schützen. Wie Wissenschaftler es nämlich bereits mehrfach in Schutzgebieten durchführen und beobachten konnten, halte man sich mit Ausbeutung und Verschmutzung zurück und übe sich ein paar Jahre bis Jahrzehnte in Geduld. Dann kehrt das Leben in die verarmten Gebiete zurück und die Landschaft unter dem Meer regeneriert sich selbst!

 

Mein Eindruck vom Buch

Mit „Im Bann des Ozeans“ nimmt Dr. Robert Hofrichter, seines Zeichens Zoologe, Biologe, Naturschützer, Naturfotograf und Journalist – achja, und Autor – das breite Publikum mit auf eine wahrlich atemberaubende Expedition „in die Wunderwelt der Tiefe“. Er beweist damit, dass es tatsächlich Wissenschaftler gibt, die das Talent zum Erzählen haben. Und dieser Erzählung kann man mit oder ohne Vorbildung genüsslich folgen.

Neue Medien statt klassischer Literaturliste

Dabei zeigt Hofrichter nicht zuletzt ein Gespür für neue Medien: Zahlreiche Anregungen zum Heraussuchen und Ansehen von Youtube-Videos und anderen Internet-Inhalten helfen dabei, in den unendlichen Weiten des WWW wirklich weiterführende Informationen zu finden bzw. diese in einen aus wissenschaftlicher Sicht vertretbaren Rahmen zu rücken.

Dafür verzichtet der Autor auf eine „klassische“ Liste weiterführender Literatur (auch das Gütersloher Verlagshaus selbst verzichtet auf die typische „Eigenwerbung“ für andere Erscheinungen auf der letzten Seite und legt stattdessen die eigene Philosophie dar), was ich als echter Bücherwurm persönlich etwas schade finde.

Gefährdung der Weltmeere ohne Untergangsstimmung

Bei allen geschilderten Wundern lässt Hofrichter nicht ausser Acht, welche Gefahren dem Lebensraum Meer und seinen Bewohnern durch die Folgen unseres Lebenswandels drohen – seien es Korallenbleiche in Folge der Klimaerwärmung oder Schadstoffe auf dem Grund der Tiefsee. Ebenso gräbt der Autor so manchem weit verbreiteten Klischee oder Irrglauben dezent aber nachhaltig das Wasser ab.

Dabei wird jedoch weder ein mahnender Zeigefinder noch deprimierende Untergangsstimmung spürbar, sodass sich diese Reise wahrlich zum Genuss wird und vor allem eines hinterlässt: Hoffnung – und die Begierde, daran teil zu haben.

Meine Tipps zum Weiterlesen

Bei all dem ist es nur natürlich, dass auf 240 Seiten oft nicht mehr als eine oberflächliche Behandlung schier uferloser Themen Platz findet. Aber dafür sind Bücher wie dieses schliesslich auch da: Sie machen Lust auf mehr.

Und mehr gibt es beispielsweise bei Frank Schätzing, dem Autor des bekannten Thrillers „der Schwarm“. Seine (*)Nachrichten aus einem unbekannten Universum: Eine Zeitreise durch die Meere(*) von 2006 sind nicht ganz so brandaktuell wie Hofrichters „Im Bann des Ozeans“, doch gewährt Schätzing in so manches Thema, das sich auch „Im Bann des Ozeans“ wiederfindet, einen ausführlicheren Einblick (Ich habe das Buch gleich nach seinem Erscheinen gelesen und es steht auch auf der ewigen Rezensionsliste für die Bücherkiste).

Die Fans der grössten Giftnudeln des Planeten kommen dagegen bei Dietrich Mebs auf ihre Kosten: Der ist nämlich Spezialist für die giftigen Lebewesen der Erde – deren gefährlichste wenig überraschend im Meer zu finden sind (meine Rezension findet ihr hier).

 

Eckdaten rund ums Buch

(*) Robert Hofrichter: Im Bann des Ozeans – Expeditionen in die Wunderwelt der Tiefe (*)

 

Gütersloher Verlagshaus, 2018
Gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag, 240 Seiten
ISBN 978-3-579-08678-1

 

Fazit

Mit seinen „Expeditionen in die Wunderwelt der Tiefe“ hat Robert Hofrichter die Chance ergriffen, Erwachsene und ältere Schüler jeden Bildungsstandes in den Bann zu schlagen und für die wundersame Welt der Meere zu begeistern. Wer das Abenteuer Wissenschaft liebt, findet hier eine begeisternde Lektüre für entspannte Sommertage – warum nicht gleich vor Ort am Strand? – die dennoch zum Nachdenken anregt.

In diesem Sinne wünsche ich euch viel Vergnügen und Petri Heil bei eurer Expedition im Bann des Ozeans!