Wie wäscht Seife? Wie kann ein Helikopter fliegen? Warum hilft Streusalz gegen Eisglätte? Antworten auf spannende Fragen von kleinen und grossen Forschern findet ihr hier!

Abfluss auf Nord- und Südhalbkugel: Physik oder Fake?

Marion, eine Leserin, auf deren Blog ich schon mehr als einmal als Gastautorin gewirkt habe, schickte mir neulich einen Link zu einem Video, das gerade auf Facebook die Runde machte. Darin zu sehen sind Einwohner Kenias bzw. Tansanias, die filmenden Touristen ein Experiment vorführen. Das Spannende daran: Diese beiden Länder liegen auf dem Äquator!

Die Anrainer dieser Kreislinie, welche den Globus genau in Nord- und Südhalbkugel teilt, möchten den Touristen mit ihrem Experiment weismachen, dass Wasser, welches durch ein enges Loch abläuft, je nach Position auf der Erdkugel in eine bestimmte Richtung wirbelt: Links herum auf der Nordhalbkugel, Rechts herum auf der Südhalbkugel und genau auf dem Äquator ganz ohne Wirbel, d.h. gerade nach unten durch das Loch. Und das soll mit Hilfe eines Trichters und eines Eimers Wasser auf einem vielleicht 30 Meter langen Stück Strasse nachprüfbar sein.

„Das ist doch alles fake, oder?“, fragte mich die Leserin. Und mein Instinkt sagte gleich, dass ihrem Bauchgefühl zu trauen sei. Dennoch habe ich nachgelesen und schnell bestätigt bekommen – unter anderem in der Lehrmaterialsammlung der Uni Karlsruhe – dass Marion ganz richtig liegt: Alles fake!

Aber wie kommt es dazu, dass derlei Gerüchte um die Drehrichtung von abfliessendem Wasser sich so hartnäckig um die ganze Welt verbreiten (auch in südamerikanischen Ländern auf dem Äquator sollen entsprechende Experimente gezeigt werden)? Warum sollte das Wasser auf der Nordhalbkugel links- und auf der Südhalbkugel rechtsherum in den Abfluss wirbeln?

 

Was die Drehrichtung des Wassers bestimmen soll: Die Corioliskraft

Urheber der vorbestimmten Drehrichtung sei – so heisst es in den meisten Gerüchten – die Drehbewegung der Erde um sich selbst. Die führt nämlich wirklich dazu, dass eine geheimnisvolle Kraft – die Physiker nennen sie Corioliskraft – von der Erdkugel ausgehende Bewegungen in eine bestimmte Richtung ablenkt!

Welche Bewegungen werden abgelenkt?

Die Corioliskraft wirkt auf solche Bewegungen, die von einem Pol zum anderen, also entlang der Längengrade (jener Linien, die auf der Weltkarte oder dem Globus Nord- und Südpol miteinander verbinden) oder von der Drehachse der Erde fort bzw. zu ihr hin (aus Sicht eines Menschen auf der Erdoberfläche „nach oben“ oder „nach unten“ verlaufen.

Wie kommt es zu der Ablenkung?

Die Erdumdrehung als Ursache

Die Erde ist (mehr oder weniger) eine Kugel, die sich stetig um ihre Mittelachse dreht – also um die gerade Linie, die Nord- und Südpol durch die Kugel hindurch miteinander verbindet. Da diese Erdkugel im Grossen und Ganzen ein fester Körper ist, müssen sich alles Material, aus dem sie besteht und alles, was sonst noch darauf haftet (Meere, Pflanzen, Tiere, Menschen und sogar die Lufthülle, die den Planeten umgibt!) stets im gleicher Lage zueinander mitdrehen, damit alles seinen Platz behält. Schliesslich ist es noch nie vorgekommen, dass jemand seine Fortbewegung durch die Erddrehung verschlafen hätte und ein paar Tausend Kilometer weiter westlich wieder aufgewacht wäre.

Alle Orte auf der Erde drehen sich gemeinsam

Dieser feste Zusammenhalt aller Teile der Erdkugel führt auch dazu, dass die Entfernung zwischen Tunis, der Hauptstadt Tunesiens in Nordafrika, und der Norwegischen Hauptstadt Oslo zu jeder Tages- und Nachtzeit gleich ist. Wenn ihr nun Tunis und Oslo auf einem Globus-Modell ausfindig macht (beide Städte liegen nahezu auf demselben Längengrad!) und kleines Bisschen von Physik versteht, mag euch eine Ungereimtheit ins Auge fallen:

Nicht alle Punkte auf der Erdoberfläche drehen sich gleich schnell

Tunis liegt deutlich weiter aussen auf der Wölbung des Globus‘ als Oslo, d.h. der Abstand von Tunis zur Mittelachse ist deutlich grösser als der Abstand von Oslo zur Mittelachse. Das bedeutet, dass der Kreis, welchen Tunis innerhalb eines Tages entlang bewegt wird, erheblich länger ist – d.h. einen grösseren Umfang hat – als der Kreis, welchen Oslo entlang bewegt wird!

Vom Abstand zum Kreisumfang

Die Länge einer Kreislinie, d.h. den Umfang U eines Kreises kann man berechnen, indem man seinen Radius r – den Abstand zwischen Kreislinie und Kreismittelpunkt – mit 2 und der Zahl Pi multipliziert.

Damit entspricht der (kürzeste) Abstand von Tunis bzw. Oslo zur Drehachse der Erde dem Radius, aus dem sich die Länge des Umlaufs der jeweiligen Stadt während eines Tages ergibt.

Damit die Entfernung zwischen beiden Städten stets gleich bleibt, müssen sowohl Tunis als auch Oslo sich an einem Tag (d.h. in 24 Stunden) genau einmal um die Erdachse wandern. Wegen des grösseren Abstands zur Drehachse muss Tunis dazu einen längeren Weg zurücklegen als Oslo. Das bedeutet: Tunis muss sich schneller bewegen als Oslo, um seine längere Umlaufstrecke am gleichen Tag zu schaffen!

Geschwindigkeit und Drehgeschwindigkeit

Die Geschwindigkeit v einer gleichförmigen, d.h. stetig in die gleiche Richtung verlaufenden Bewegung kann man ausrechnen, indem man einen zurückgelegten Streckenabschnitt durch die dafür benötigte Zeitspanne teilt:

Eine vergleichbare Beziehung gilt auch für eine gleichförmige Kreisbewegung, in welcher der zurückgelegte Winkel Phi (φ) den Streckenabschnitt ersetzt. Die so berechnete Grösse nennen die Physiker Dreh- oder Winkelgeschwindigkeit und schreiben dafür statt v ein kleines Omega (ω):

Wenn die benötigte Zeit für zwei Bewegungen gleich ist, aber ein Streckenabschnitt bzw. Winkel grösser als der andere, ergibt sich mit dem somit grösseren Zähler im Bruch auf der rechten Seite der Gleichung aus dem grösseren Streckenabschnitt bzw. Winkel eine grössere Geschwindigkeit.

Gut sichtbar wird das, wenn ihr euch die Erdkugel einmal von „oben“ anseht:

Ablenkung eines Balls auf dem Weg von Oslo nach Tunis

Die Erde von einem Punkt über dem Nordpol aus gesehen: Die Nordhalbkugel erscheint als flache Scheibe mit dem Nordpol als Mittelpunkt. Ein Fussball fliegt von Oslo in der Nähe des Mittelpunkts nach Tunis, welches weiter vom Mittelpunkt entfernt liegt. Aus der Summe der Geschwindigkeiten von Oslo (kurzer blauer Pfeil) und der Südwärtsbewegung des Balles (durchgezogener roter bzw. langer blauer Pfeil) ergibt sich Punkt (2) als Zielpunkt für den Ball. Tunis, das sich schneller als Oslo bewegen muss, um seinen längeren Kreisabschnitt in gleicher Zeit zu schaffen, befindet sich dann aber schon an Punkt (3)! Der Weg des Balls kann auch durch die gekrümmte gepunktete Linie beschrieben werden: Eine Kraft – die Corioliskraft, die nach „rechts“ wirkt, lenkt den Ball von der geraden Flugbahn ab.

Die Grafik zeigt die Erde aus der Sicht eines Astronauten, der über dem Nordpol (in der Grafik der Mittelpunkt der Kreise) schwebt. Die gestrichelte Kreisline markiert den Weg, auf dem sich Oslo mit der Erde dreht. Die mittlere, durchgezogene Kreislinie zeigt den Weg, den Tunis nimmt (da Tunis auf der Kugelwölbung weiter aussen liegt, ist dieser Kreis grösser). Der ganz äussere Kreis ist der Äquator – die Südhalbkugel ist aus dieser Richtung nicht zu sehen.

Ein Fussballspiel von Oslo nach Tunis

Stellt euch nun vor, ein besonders kräftiger Spieler würde einen Fussball vom Anstosspunkt im Osloer Stadion über die Stadionmauer in Richtung Tunis (also genau nach Süden) treten. Wenn der Fussballspieler nun als Kind in den Zaubertrank gefallen ist und der Ball seine Reise über Europa hinweg antritt…wo würde er dann – die Lufthülle der Erde mal ausser Acht gelassen – landen? Im Tor im Stadion von Tunis?

Die Krux mit der Impulserhaltung

Eines der grundlegenden Gesetze der Physik – das Gesetz der Impulserhaltung – schreibt vor, dass jede Bewegung eines jeden Gegenstands in jede Richtung erhalten bleibt, so lange keine Kraft in die der Bewegung entgegengesetzte Richtung wirkt und ihn ausbremst.

Da der Fussball vor dem Anstoss auf der Erde gelegen hat, hat er sich zunächst mit der Geschwindikgeit von Oslo um die Erdachse gedreht. Diese Drehrichtung und -geschwindigkeit bleibt dem Ball auch, nachdem der Fussballer ihn in Richtung Süden getreten hat. Die Bewegung in Richtung Süden wird einfach zur Bewegung in Richtung der Oslo-Kreisbahn hinzugezählt.

Wie man Bewegungen addiert

Die geraden Pfeile in der Grafik zeigen die Richtungen der Teilbewegungen an – die Länge der Pfeile steht für die Geschwindigkeit bzw. den Impuls in der jeweiligen Richtung. Verschiebt man nun das hintere Ende eines Pfeils an die Spitze des ersten, zeigt der neue Pfeil vom hinteren Ende des einen zur Spitze des anderen Pfeils die Richtung der Gesamtbewegung (und dessen Länge die Gesamtgeschwindigkeit). Dieses Verfahren nennen die Mathematiker Vektoraddition (denn die Pfeile heissen bei ihnen Vektoren).

Die Grafik zeigt: Obwohl nach Süden getreten bewegt sich der Fussball diagonal über Europa nach Südosten – wobei die Geschwindikeit in Ost-Richtung der von Oslo entspricht. Damit landet der Ball am Punkt 2 irgendwo an der tunesischen oder algerischen Mittelmeerküste und nicht in Tunis (das befindet sich inzwischen weiter östlich an Punkt 3). Denn weil Tunis sich schneller bewegt als Oslo, ist es während der Flugzeit des Fussballs weiter nach Osten gewandert als der von der Impulserhaltung als „südlich von Oslo“ vorgegebene Punkt 2! Der Schuss geht also gründlich daneben.

Durch Drehbewegung auf die krumme Bahn

Wenn der Astronaut, der über dem Nordpol unbewegt schwebt, dieses unglaubliche Fussballspiel beobachtet und filmt, um anschliessend die Position des Balles in regelmässigen Zeitabschnitten einzublenden, erhält er eine Linie, die dem nach links gekrümmten gestrichelten Pfeil in der Grafik entspricht. Solch eine gekrümmte Flugbahn lässt sich mathematisch beschreiben, indem man annimmt, dass eine Kraft den Fussball in Ablenkungsrichtung beschleunigt – die sogenannte Corioliskraft.

Kraft und Beschleunigung: Zwei physikalische Grössen mit Richtung

Das Grundgesetz der Mechanik beschreibt die einfache Beziehung zwischen Kraft (F) und Beschleunigung (a):

Je grösser die Kraft ist, die auf einen Gegenstand mit der Masse m wirkt, desto grösser ist dessen Beschleunigung – d.h. desto schneller wird der Gegenstand schneller. Die physikalische Grösse für die Beschleunigung ist – wie auch jene für die Geschwindigkeit – stets mit einer Richtung versehen, die gemäss der Gleichung auch für die Kraft gilt.

Da die Corioliskraft mathematisch nur „in Erscheinung tritt“, wenn man das Fussballspiel wie der Astronaut von aussen beobachtet (die Zuschauer im Stadion in Oslo, die vor dem Abstoss mit Stadt und Ball um die Erdachse kreisen, kommen mit Hilfe der Vektoraddition weiter oben auf das Ziel des Balles), wird sie von den Physikern eine Scheinkraft genannt.

Die Corioliskraft ist aber durchaus real

Trotzdem könnt ihr selbst die Corioliskraft spüren, wenn ihr zum Beispiel versucht, auf einer sich drehenden Karussell-Scheibe auf dem Spielplatz geradewegs zu ihrem Mittelpunkt zu laufen. Das ist nämlich gar nicht so einfach – ihr müsst schon ordentlich gegenhalten, damit euch die Corioliskraft nicht von eurem direkten Weg ablenkt!

Ähnlich verhält es sich auch mit unserem unwahrscheinlichen Fussballspiel: Wenn die tunesische Küstenwache den Fussball aus dem Mittelmeer fischen und ins Stadion von Tunis bringt, sodass ein wiederum sehr starker Spieler den Ball in Richtung Oslo abstossen kann, würde auch er das Tor der Norweger nicht treffen. Denn da der Ball nun die höhere Drehgeschwindigkeit von Tunis mitnimmt, wird das langsamere Oslo den durch die Addition der Teilbewegungen ermittelten Zielpunkt beim Eintreffen des Balls noch nicht erreicht haben: Stattdessen fällt der Ball weiter östlich vielleicht auf die Grenze zwischen Norwegen und Schweden.

Die Regeln für die Ablenkung durch die Corioliskraft

Ganz gleich, in welche Richtung der Ball auf der Nordhalbkugel gespielt wird: In Flugrichtung gesehen lenkt die Corioliskraft den Ball stets „nach rechts“ (d.h. in Nord-Süd-Richtung nach Westen und in Süd-Nord-Richtung nach Osten).

Würde man ein ebenso unwahrscheinliches Fussballspiel auf der Südhalbkugel austragen, müsstet ihr die Zeichnung oben in einem Spiegel betrachten: An die Stelle des Nordpols tritt der Südpol (der ist auch auf jeder europäischen Landkarte unten, sodass ihr euren Atlas nun richtig herum halten könnt) und Osten ist nun rechts, sodass die Erde sich nun rechts herum dreht. Demnach „wirkt“ auch die Corioliskraft nun in spiegelverkehrter Richtung:

Ganz gleich, in welche Richtung der Ball auf der Südhalbkugel gespielt wird: In Flugrichtung gesehen lenkt die Corioliskraft den Ball stets „nach links“ (d.h. in Nord-Süd-Richtung nach Osten und in Süd-Nord-Richtung nach Westen).
Warum das unwahrscheinliche Fussballspiel?

Vielleicht habt ihr euch schon gefragt, weshalb ich so eine hanebüchene Begebenheit wie ein Fussballspiel von Oslo nach Tunis ersinne, um die Ablenkung durch die Corioliskraft zu beschreiben. Würden realistischere Umstände nicht den gleichen Zweck erfüllen?

Mit dieser klugen Frage kommen wir zu den Wasserwirbeln in Kenia und Tansania zurück. Der gekrümmte Pfeil in der Grafik deutet es schon an: Da die Ablenkung durch die Corioliskraft auf unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Start- und Zielort einer Bewegung beruht, fällt eben diese Ablenkung um so grösser aus, je grösser der betreffende Geschwindigkeitsunterschied ist. Und der Geschwindigkeitsunterschied ist um so grösser, je weiter die Abstände von Start und Ziel von der Drehachse sich unterscheiden – d.h. je weiter Start und Ziel in Nord-Süd-Richtung voneinander entfernt liegen!

 

Warum die Corioliskraft für das Abfluss-Experiment keine Bedeutung hat

Beim Abfliessen aus einem vielleicht 40cm durchmessenden Trichter kommen die strömenden Wasserteilchen auf eine Bewegung von höchstens 20 Zentimeter in Nord-Süd-Richtung und wieder zurück. Dementsprechend winzig ist der Einfluss der Corioliskraft auf die Bewegungsrichtung der Teilchen – und dementsprechend einfach lässt sich die Bewegung durch andere Kräfte sehr gezielt beeinflussen.

Solche Kräfte lassen sich zum Beispiel durch eine angepasste Trichterform ausüben, welche die daran vorbei strömenden Wasserteilchen ganz unscheinbar in die gewünschte Richtung lenkt. Die Bemalung mit den auffälligen Spiralmustern lenkt recht erfolgreich von diesen kleinen Unterschieden ab.

Wenn ihr genau hinschaut, könnt ihr im Video erkennen, dass der Trichter, der „auf dem Äquator“ zum Einsatz kommt (welcher übrigens den Wirbel mittig halbiert, sodass die entgegengesetzte Wirkung der Coriolis-Ablenkung in der Nord- und Südhälfte sich aufheben soll), eine andere Form zu haben scheint als die Trichter für den Norden und den Süden.

 

Wo ihr die Auswirkung der Corioliskraft wirklich beobachten könnt

Wenn bei der Wettervorhersage im Fernsehen eine bewegte Wetterkarte zum Einsatz kommt, sind darauf meist riesige Wolkenwirbel zu sehen, die sich in die eine oder andere Richtung drehen. Es handelt sich dabei um Gebiete mit besonders hohem oder besonders tiefem Luftdruck. Ein hoher Luftdruck führt dazu, dass Luft in alle Richtungen von dem Gebiet wegströmt, während tiefer Luftdruck dazu führt, dass aus allen Richtungen zum betreffenden Gebiet hinströmt.

Diese Luftströmungen sind Hunderte bis Tausende Kilometer lang – und da die Lufthülle des Planeten sich im Grossen und Ganzen mit der Erde mitdreht, wirkt auf die strömenden Teilchen eine Corioliskraft. Die führt dazu, dass die Luftströme nicht geradlinig auf ein „Tief“ zu oder von einem „Hoch“ weg strömen, sondern in krummen, einen abflussähnlichen Wirbel bildenden Bahnen.

Der Coriolis-Ablenkung wegen drehen sich die Wirbel um Hochdruckgebiete auf der Nordhalbkugel stets „nach rechts“, also im Uhrzeigersinn, während die Wirbel um Tiefdruckgebiete – hier strömt die Luft in umgekehrter Weise – sich stets „nach links“, also gegen den Uhrzeigersinn drehen. Auf der Südhalbkugel, wo die Corioliskraft in seitenverkehrter Weise wirkt, ist das genau umgekehrt.

Um dagegen die Wirkung der Corioliskraft auf Wasserwirbel sichtbar zu machen, müssen diese mindestens ein paar Meter durchmessen und in aufwändig vor äusseren Einflüssen geschützter Umgebung im Labor kreisen können – auf der Strasse in Kenia funktioniert das jedenfalls nicht!

Seid ihr dem Mythos um die Drehrichtung von abfliessendem Wasser auch schon begegnet?

Und wenn ihr anlässlich der kommenden Weltmeisterschaft nur noch Fussball im Kopf habt, habe ich auch eine passende Anekdote aus der Chemie: Die Natur hat nämlich ein originalgetreues Fussball-Molekül erfunden!

Luftschlangen und Konfetti - wie sie funktionieren

Ob Güdismäntig oder Rosenmontag: Heute geht es vielerorts bunt und lustig zu. Die grossen Festumzüge ziehen durch die Strassen, und bei all dem bunten Treiben dürfen besonders in Mitteleuropa zwei farbenfrohe Accessoires nicht fehlen: Luftschlangen und Konfetti.

Die Schweizer Fasnacht kommt vor allem nicht ohne Konfetti aus. Säckeweise kann man die bunten Papierschnipsel zur Zeit in jedem Supermarkt erstehen, und beim Umzug und allen anderen närrischen Gelegenheiten bewirft man sich damit, was das Zeug hält.

Besonders berüchtigt ist dabei die Konfetti-Badewanne. Die wird von einer Gruppe furchterregender Hexen auf einem Wagen mit dem Umzug mitgerollt. Und wenn diese Truppe in Sicht kommt, heisst es besonders für weibliche Zuschauer Obacht – denn die verschlagenen Begleiter (meist sind die Hexen nur scheinbar weiblich) entführen immer wieder gern jemanden vom Strassenrand und stecken sie komplett mit allem Drum und Dran in die schnitzelbunte Wanne. Mich selbst hat es zum Glück noch nie getroffen – denn Reto, mein Partner, hasst Konfetti in der Wohnung. Und die wären danach wohl unvermeidlich.

Nichts einzuwenden hat er dafür gegen Dekoration mit Luftschlangen. Farbe im Haus hellt schliesslich auch seinen grauen Februar auf, und die hübsch gelockten Papierschlingen lassen sich auch ohne grossen Aufwand wieder beseitigen. Aber wie funktionieren Luftschlangen eigentlich? Und seit wann gibt es sie? Wer hat sie erfunden?

Wie funktionieren Luftschlangen?

Wir kennen sie alle, die bunten, schmalen Papierrollen, die mit einem kräftigen Luftstoss zu quirligem Eigenleben erwachen. Doch wie können sie sich eigentlich entrollen, wenn wir doch durch das Loch in der Mitte blasen?

Bernoulli machts möglich: Schon anlässlich der Antwort auf die Leserfrage, wie denn ein Helikopter fliege, habe ich den nach ihm benannten Effekt erklärt, dank welchem Luft die unwahrscheinlichsten Dinge in Bewegung setzen kann. Eine Luftströmung geht nämlich stets mit einem Unterdruck entlang ihrer selbst einher, sodass solch eine Strömung bewegliche Gegenstände regelrecht ansaugen kann.

Wenn diese Gegenstände Tragflächen eines Flugzeugs oder Rotorblätter eines Helikopters sind, hebt dieser Sog sie (unterstützt von einem höheren Druck von unten) in die Höhe. Wenn es sich aber um die leichtgewichtige Innenwand einer Papierrolle handelt, an welcher die Luft entlang strömt, wird diese Innenwand in Stromrichtung aus der Rolle hinaus gesogen – und was daran hängt, muss zwangsläufig folgen.

So setzt ein Luftstoss durch die Rolle das Eigenleben der Luftschlange in Gang. Und wenn erst einmal genügend Papier in Bewegung ist, nimmt die klassische Mechanik ihren Lauf. Denn was einmal in Bewegung ist, hört damit nicht mehr auf, so lange es nicht durch äussere Umstände – wie den Luftwiderstand – dazu gezwungen wird. Und wenn letzterer die Schlange auszubremsen droht, bringt die Gravitation das Ganze zuende: Die Papierrolle wird vollständig abgewickelt.

Im Übrigen wollen Wissenschaftler an der TU München herausgefunden haben, dass zwischen 25 und 30 cm der optimale Abstand zwischen Mund und Luftschlangen-Rolle ist, um den wirksamsten Sog damit ein spektakuläres Entkringeln zu erzeugen.

Seit wann gibt es Luftschlangen? Und wer hat sie erfunden?

Nein, nicht die Schweizer. Die Luftschlange ist, wie viele spannenden Erfindungen, ein Zufallsprodukt. Und zwar aus dem Jahre 1887.

Damals leitete der deutsche Buchbindermeister Paul Demuth in Berlin eine Firma, die nützliche Papierprodukte herstellte. Dazu gehörten auch Telegrafenrollen – fest aufgewickelte schmale Papierstreifen, die man in einen Telegrafen-Empfänger einlegte, damit dieser fortlaufend Morsezeichen darauf drucken oder stechen konnte.

Eines Tages, so heisst es, liess einer von Demuths Angestellten eine solche frisch produzierte Rolle versehentlich fallen. Da Demuth scheinbar ein jähzorniger Chef war, klaubte er die Rolle auf und schleuderte sie wütend durch den Raum. Der Fahrtwind, welcher dabei durch das Loch in der Mitte pfiff, führte dabei zum Bernoulli-Effekt und wickelte das Telegrafenband zu einer hübschen Spirale aus, die dann um so gemächlicher zu Boden geschwebt sein muss.

Einen Funken Humor (oder etwas mehr) muss Paul Demuth, der zu jener Zeit schon über 70 Jahre zählte, sich jedenfalls bewahrt haben. Denn er färbte die nächsten Papierrollen bunt ein und liess sein Spass-Produkt kurz darauf erfolgreich patentieren. Weniger humorvoll war damals, im deutschen Kaiserreich, die Berliner Polizei. Die wertete nämlich Demuths ersten Feldversuch mit der neuen Erfindung in Berlins Strassen als „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ an und nahm den Erfinder kurzerhand in Haft.

Und die Geschichte zu den Konfetti?

„Konfetti“ leitet sich vom italienischen Wort für Konfekt ab. Mit diesen recht kostspieligen Süssigkeiten bewarfen sich dereinst die Wohlhabenden beim Karneval in Venedig. Unter der weniger reichen Bevölkerung, die sich diesen Spass nicht leisen konnte, wurden dazu entsprechende Attrappen aus Gips verwendet. Davon getroffen zu werden war allerdings eine ziemlich schmerzhafte Erfahrung.

Der Legende nach soll auch Paul Demuth zum Karneval in Venedig gewesen sein – und alsbald eine Idee gehabt haben, wie er das schmerzhafte Problem der Venzianer lösen konnte: Papierschnitzel sind billig, bunt und mangels Gewicht absolut nicht schmerzhaft (höchstens für die ordnungsliebende Seele). Und wenn man Anlagen zur Herstellung von Papierprodukten hat, kann man sie ganz einfach in grossen Mengen herstellen.

Noch heute werden übrigens Reste von buntem Luftschlangenpapier in grosse Locher-Maschinen gegeben, die die farbenfrohen Schnitzel daraus ausstechen. Allerdings hat Paul Wermuth es verpasst, auch diese Erfindung zum Patent anzumelden, sodass sie ihm nurmehr in der Legende zugeschrieben werden kann.

Während in Luzern auf meinem Neben-Bildschirm schon der Güdismäntigs-Umzug läuft, wünsche ich euch allen noch ein fröhliches Helau!, Alaaf!, Narri! Narro!, ä rüüdigi Fasnacht! Oder was man sonst noch bei euch wünscht und ruft!

Eure Kathi Keinstein

Verratet uns doch in den Kommentaren euren Fasnachts- bzw. Karnevalsruf oder – gruss – und erzählt vielleicht auch gleich von eurem närrischsten Erlebnis mit Luftschlangen oder Konfetti!

Vor fünf Jahren machte erstmals die „ice and salt challenge“ um eine erstaunliche Kältemischung auf Youtube die Runde: Youtuber streuen sich Kochsalz auf die nackte Haut und fügen dann Eiswürfel hinzu. Das Ganze wird augenscheinlich sehr kalt – und die Challenge besteht darin, die Kälte lange genug zu ertragen.

Vor einem Jahr schlug diese Schnapsidee einmal mehr Wellen in den Medien:

Denn diese Challenge ist gefährlich!

Das Körpergewebe wird nämlich durch Kälte genauso verletzt wie durch Hitze: Eis und Salz werden gemeinsam so kalt, dass sogenannte Kaltverbrennungen bis zweiten oder dritten Grades die Folge sein können!

So fragt eine Leserin berechtigterweise: Warum tun Eis und Salz gemeinsam auf der Haut so weh?

Die Antwort lautet: Weil das Gemisch sehr kalt wird! Mischt man Eis und Kochsalz zu gleichen Teilen, kann die Temperatur des Gemischs auch in wärmerer Umgebung vom Schmelzpunkt reinen Wassers bei 0°C auf bis zu -17°C absinken!

Warum Eis mit Salz besonders kalt wird

Eigentlich gibt es in der Physik die Eigenschaft „Kälte“ nicht. Was wir als Kälte empfinden, ist das Resultat nicht vorhandener Wärme – also geringer Energie. Wenn etwas kalt wird, wird ihm also Energie entzogen. Und diese Energie darf nach den Gesetzen der Thermodynamik nicht einfach verschwinden.

Tut sie auch nicht: In einem Gemisch aus Eis und Kochsalz spielen mehrere Phänomene, die Wärme für ihre Zwecke vereinnahmen, zusammen:

Schmelzwärme: Das Schmelzen erfordert Energie!

Der Versuch, den ich letzten Freitag hier verbloggt habe, hat gezeigt: Schon der Vorgang des Schmelzens als solcher erfordert Energie, in diesem Zusammenhang „Schmelzwärme“ genannt, die dem schmelzenden Stoff und seiner Umgebung in Form von Wärme entzogen wird: Die Temperatur an der Oberfläche schmelzenden Eises stellt sich auf 0°C ein und steigt auch in wärmerer Umgebung nicht an.

Ebenso wenig nimmt sie weiter ab: Während am Schmelzpunkt, der auch Gefrierpunkt genannt wird, Wasserteilchen aus dem festen Eis-Gitter beweglich, also flüssig werden, ordnen sich andere, bewegliche Wasserteilchen wieder ins Gitter ein, werden also fest. Und dabei wird entsprechend Schmelzwärme freigesetzt.
Eis und Wasser befinden sich in einem Gleichgewicht, wie Le Châtelier es am Flughafen beschreibt!

Sobald sich dieses Gleichgewicht eingestellt hat, wird ebenso viel Schmelzwärme freigesetzt wie aufgenommen: Die Temperatur der beteiligten Stoffe ändert sich nicht.

Gelangt nun aus der Umgebung Wärme in dieses System, so verschiebt sich das Gleichgewicht weg von der Seite mit Wärme und damit hin zum flüssigen Wasser: Das Eis schmilzt.

Gefrierpunktserniedrigung: Wassermoleküle sind nicht multitaskingfähig!

Der Gefrierpunkt einer Kochsalzlösung in Wasser ist niedriger als der Gefrierpunkt von reinem Wasser. Dabei gilt: Je höher die Konzentration der Lösung (d.h. je mehr Salz mit dem Wasser vermischt) ist, desto niedriger ist ihr Gefrierpunkt. Chemiker und Physiker nennen diesen Effekt „Gefrierpunktserniedrigung“.

Das Auflösen von Kochsalz, also Natriumchlorid, in Wasser bedeutet, dass sich die Natrium- und Chlorid-Ionen einzeln mit den Wassermolekülen mischen. Dabei wird jedes Ion von einer bestimmten Anzahl Wassermoleküle eingehüllt (Chemiker sagen „hydratisiert“). Diese Wassermoleküle, die mit dem Einhüllen von Ionen „beschäftigt“ sind, stehen damit nicht mehr für das Gefrieren – also der Umwandlung von flüssigem Wasser zu Eis, in der Gleichung oben von rechts nach links – zur Verfügung.

Gemäss dem Gesetz von Le Châtelier verschiebt sich das Gleichgewicht zum flüssigen Wasser, um den „Verlust“ an flüssigem Wasser auszugleichen: Es schmilzt nun mehr Eis, als es erstarrt. Damit wird mehr Schmelzwärme aufgewendet, als frei wird: Die Temperatur nimmt ab – und zwar so lange, bis sich ein neues Gleichgewicht eingestellt hat.

Das geschieht, wenn die Temperatur der Mischung den Gefrierpunkt von Salzwasser-Eis erreicht hat. Erst dann kann nämlich das Wasser mitsamt der eingehüllten Ionen zu einem festen Stoffgemisch erstarren – vorher bildet sich auch aus Salzwasser, wenn überhaupt, nur reines Wassereis.

Was macht die Kälte für uns gefährlich?

Die biochemischen Reaktionen, die in unseren Zellen und Geweben ablaufen, sind darauf ausgelegt, bei rund 37°C – in unserer Haut auch bei ein paar Grad darunter – abzulaufen und optimal zusammen zu spielen. Sinkt die Temperatur in einem Körpergewebe darunter, werden die Stoffwechselreaktionen zunächst langsamer. Das ist nicht weiter tragisch – so lange die komplexen, ebenfalls auf 37°C ausgelegten Molekülstrukturen, aus denen wir bestehen, durch das Abkühlen nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Sobald das geschieht, gerät der Stoffwechsel der betroffenen Zellen spätestens bei der Wiederannäherung an die Betriebstemperatur (also wenn das Gewebe wieder warm wird), aus dem Tritt. Ab einem gewissen Grad des molekularen Durcheinanders veranlassen solche Zellen ihre Selbstzerstörung und begehen Selbstmord, bevor ihre Funktionsstörung ihre Nachbarn grossartig beschädigen können (Die Molekularbiologen nennen diesen programmierten Zelltod „Apoptose“).

Wenn den beschädigten Zellen jedoch nicht die Zeit bzw. die Energie bleibt, um die kontrollierte Selbstzerstörung zu durchlaufen – weil sie zum Beispiel zu schnell kalt oder heiss werden oder anderweitig drastisch beschädigt werden, kommt es zu einem zellulären GAU („grössten anzunehmenden Unfall“): Die Zellen werden unkontrolliert zerstört und neben Alarmsignal-Stoffen (einem molekularen „Hilfeschrei“) gelangen durch die zerstörten Zellwände Stoffe aus dem Zellinneren ins „Freie“, die den Nachbarzellen gefährlich werden können. Wir nehmen das als Entzündungsreaktion, Rötung, Schwellung, Schmerzen, und – wenn sichtbar grosse Gewebeabschnitte betroffen sind – als hässliche Wunden – Zell-Schrott eben – wahr (Molekularbiologen nennen diesen unkontrollierten Zelluntergang „Nekrose“).

Da in unkontrolliert entstandenem Zell-Schrott keine geordneten biochemischen Reaktionen und keine Blut- und damit Sauerstoffversorgung mehr möglich sind, kann „nekrotisches“, d.h. in einem „GAU“ untergegangenes Gewebe nicht mehr heilen. Ebenso wenig funktioniert in solchen Gewebebereichen die Immun-Abwehr, sodass nekrotisches Gewebe leicht von Bakterien oder anderen unliebsamen Gästen infiziert werden kann.

Dabei macht es praktisch keinen Unterschied, ob der zelluläre GAU von starker Hitze oder starker Kälte herrührt: Kalt-Verbrennungen und Heiss-Verbrennungen unterscheiden sich in ihren Folgen nicht wesentlich. Das Auftreten von unumkehrbar zerstörtem Gewebe durch Hitze oder Kälte entspricht damit einer Verbrennung dritten Grades. Und gemäss so mancher Bilder, die ich auf Youtube gesehen habe, scheinen Kalt-Verbrennungen zweiten bis dritten Grades mit einer Kältemischung, die zu lange auf der Haut verbleibt, problemlos machbar zu sein!

Wozu kalte Sachen weh tun

Der menschliche Körper schützt sich vor Kalt- ebenso wie vor Heiss-Verbrennungen: Die Haut ist mit Schmerz-Rezeptoren ausgerüstet, die bei Hitze- und Kältereizen schmerzhaften Grossalarm auslösen und dafür sorgen, dass wir uns reflexartig von der Hitze- oder Kältequelle entfernen, bevor es zum Schlimmsten kommt.

Normalerweise jedenfalls. Wer sich an der „ice- and salt-challenge“ beteiligt, bemüht sich darum, genau diesen Schutzreflex zu unterdrücken. Je „erfolgreicher“ man darin ist, desto gefährlicher werden die Verletzungen, die daraus resultieren können!

Ich rate daher dringend vom Nachmachen ab!

Wie ihr trotzdem mit der Gefrierpunktserniedrigung experimentieren könnt

Anstatt ein Eis-Kochsalz-Gemisch auf eure Haut zu bringen, könnt ihr Eiswürfel oder Schnee und Salz ebenso gut in einem Behälter (am besten aus Kunststoff oder Edelstahl – Glas und Keramik können bei schneller Temperatur-Änderungen schonmal zerspringen!) miteinander mischen und die Temperaturabsenkung mit einem Thermometer messen.

Dabei könnt ihr gleich eure eigene Challenge veranstalten: Wer erreicht mit seinem Eis-Kochsalz-Gemisch die niedrigste Temperatur?

Wenn ihr unbedingt selbst fühlen möchtet, wie kalt das Gemisch wird, dann nehmt die Finger gleich wieder weg, sobald es euch unangenehm wird (das ist in der Regel innerhalb von Sekunden der Fall)!

Chemiker nutzen solche „Kältemischungen“ aus Eis und Kochsalz übrigens gerne im Labor, um Reaktionsgefässe ohne aufwändige Elektrogeräte (ausser der Eiswürfelmaschine bzw. dem Tiefkühlfach) wirksam zu kühlen: So können Reaktionen, bei denen sehr viel Energie frei wird, im Zaum gehalten oder gasförmige Stoffe im Gefäss verflüssigt werden.

Seid ihr auch schon mit der „ice-salt-challenge“ in Berührung gekommen oder habt gar daran teilgenommen? Oder habt ihr schonmal eine Kältemischung zum Kühlen verwendet?

Wie fliegen Helikopter?

Gestern habe ich ab der Funktion eines Helikopters gestaunt. Fliegt der wirklich nur von der Kraft der Propeller?

Die ist die Leserfrage der Woche. Und ganz kurz vorweg genommen: Die Antwort lautet „Ja“.

In der Tat ist es ein atemberaubendes Spektakel, wenn sich solch eine unförmige Maschine sich unter grossen Getöse wie von Zauberhand in die Lüfte erhebt. Und spätestens, wenn die Schweizer Armee am Züri-Fest ihre gewaltigen „Super-Pumas“ zur Flugshow entsendet, wird diese Frage vielen Zuschauern auf der Zunge liegen: Wie fliegt so ein Heli bzw. Hubi (vom in Deutschland gebräuchlicheren „Hubschrauber“)?

Seit wann gibt es Helikopter?

Das physikalische Phänomen, das Hubschrauber zum Fliegen bringt, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. So hat schon Leonardo da Vinci im 15. Jahrhundert seine Idee zu einer „Flugschraube“ skizziert. Diese Bezeichnung kommt der Bedeutung des Wortes „Helikopter“ übrigens näher als „Hubschrauber“: Es setzt sich nämlich aus den griechischen Wörtern „helix“ für Schraube und „pteron“ für Flügel zusammen. Ein „heliko-pteron“ wäre damit so etwas wie ein Schraubflügler – oder eben eine Flugschraube.

Während die Jahrhunderte vergingen, haben sich viele Erfinder an der Idee der Flugschrauben versucht – darunter mit Jakob Degen übrigens einer, der mit mir den bürgerlichen Namen teilt. Da eine Schraube zum Fliegen jedoch einen leistungsfähigen Antrieb braucht, wurden Helikopter erst im 20. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Verbrennungsmotors wirklich nutzbar. Den entscheidenden Kick erfuhr die Hubschrauber-Forschung wie so oft durch das Militär während der beiden Weltkriege. So kamen bereits zum Ende des zweiten Weltkriegs die ersten Militär-Helikopter in Serie zum Einsatz.

Wie fliegt ein Hubschrauber?

Die meisten zivilen Helikopter sind heutzutage einheitlich aufgebaut: Über dem Rumpf befindet sich ein grosser, mehrflügeliger Rotor, der in waagerechter Ausrichtung um eine senkrechte Achse kreist. Dazu kommt ein „Schwanz“, der nach hinten aus dem Rumpf ragt und meist mit einem kleineren Heck-Rotor bestückt ist.

Für das Fliegen ist der grosse Haupt-Rotor zuständig. Der besteht nämlich aus mehreren Rotor-Blättern, die im Querschnitt – also wenn man sie kurzerhand absägen würde – etwa so aussehen:

Querschnitt durch ein Rotorblatt

By Dhaluza (http://en.wikipedia.org/wiki/Image:PSU-90-125.PNG) [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

Die Skizze erinnert nicht umsonst an eine Flugzeug-Tragfläche. Flugzeuge und Hubschrauber nutzen nämlich das gleiche physikalische Phänomen zum Fliegen: Der Bernoulli-Effekt.

Wie Flugzeuge fliegen

Ein Flugzeug wird durch Propeller oder Düsen-Triebwerke geradeaus bewegt – und die Tragflächen bewegen sich mit dem stumpfen Ende voran mit. Dabei durchschneiden sie die Luft, welche als „Fahrtwind“ oberhalb und unterhalb der Tragfläche entlangströmt. Durch die Wölbung ist der Weg obenherum allerdings länger als untenherum. Dabei bewegen sich alle Teile der Tragfläche (und des Flugzeugs) mit derselben Geschwindigkeit – legen also in einer bestimmten Zeit dieselbe Strecke zurück. Die „Hälften“ der Luft, die von der vorderen „Kante“ der Tragfläche durchschnitten wird, müssen so an der hinteren Kante nach dem gleichen Zeitabschnitt wieder zusammenfinden. Das bedeutet: Die Luft muss obenherum schneller strömen als untenherum, um den Umweg um die Wölbung zu schaffen.

Die schneller strömende Luft führt zu einem Überdruck unterhalb der Tragfläche im Verhältnis zum Druck darüber (bzw. zu einem Unterdruck oben im Verhältnis zum Druck unten). Wenn dieser Überdruck bzw. der „Auftrieb“ durch eine ausreichend schnelle Strömung stark genug wird, um die Schwerkraft zu überwinden, drückt er mit den Tragflächen das gesamte Flugzeug nach oben – es fliegt!

Und beim Heli dreht sich alles im Kreis

Die Rotorblätter eines Hubschraubers funktionieren genauso: Der Druckunterschied, welcher entsteht, wenn die Rotorblätter durch die Luft schneiden, hebt den Rotor mitsamt dem daran hängenden Helikopter empor. Der entscheidende Unterschied zum Flugzeug besteht darin, dass die Rotorblätter sich im Kreis bewegen. Dadurch können sie einen Auftrieb erzeugen, ohne dass der Hubschrauber sich vorwärts bewegen muss. Er kann deshalb senkrecht starten und landen und – wenn es dem Piloten gelingt, die Schwerkraft durch den Auftrieb genau auszugleichen – sogar in der Luft „stehen“!

Da man aber letztlich auch mit dem Helikopter von A nach B gelangen möchte, hat der Pilot die Möglichkeit, seine Rotorblätter so zu kippen, dass der Rotor das Fluggerät nicht senkrecht, sondern leicht schräg nach oben hebt. So kommt zur Bewegung durch den Auftrieb nach oben ein nach vorn gerichteter Anteil – also ein Vortrieb. Je nach Einstellung der Rotorblätter kann dieser Anteil auch nach links, rechts oder hinten gerichtet sein – und der Heli fliegt seitswärts oder rückwärts!

Wozu der Heckrotor dient

Doch dieser super-manövrierfähige Antrieb hat einen Haken: Wenn man einen Kreisel bzw. Rotor auf einen frei schwebenden Gegenstand montiert, versetzt der sich drehende Kreisel unweigerlich auch den Gegenstand in eine Drehbewegung. In einer einfachen Kanzel mit Hubschrauber-Rotor würde dem Piloten deshalb ganz schnell übel und er hätte keine Chance, die Kontrolle über sein Gefährt zu behalten.

Deshalb haben die meisten Helikopter einen Ausleger am Rumpf, dessen Ende mit einem kleineren, senkrecht ausgerichteten Rotor ausgestattet ist. Dieser erzeugt nach dem gleichen Prinzip der Hauptrotor einen Druckunterschied, der zur Bewegung führt – seiner senkrechten Ausrichtung wegen aber nicht aufwärts, sondern vorwärts – und zwar der Kreisel-Bewegung des Rumpfes genau entgegengesetzt! So verhindert der Heckrotor, dass der Hauptrotor den ganzen Rumpf in Drehung versetzt.

Sehr eindrücklich wird das in vielen Actionfilmen dargestellt: Wenn dort einem Hubschrauber der Heckrotor weggeschossen wird, fängt der Rumpf unter dem unbeschädigten Hauptrotor an zu kreiseln und das Ganze stürzt hollywoodmässig spektakulär in die nächste Haus- oder Bergwand.

Der Heckrotor ist übrigens der lauteste Teil eines Helikopters, weshalb auch andere Lösungen für das Kreiselproblem gefunden und umgesetzt wurden.

Dazu gehören zum Beispiel zwei Hauptrotoren an der selben Antriebsachse, die sich in entgegengesetzter Richtung drehen. So hindern sich die beiden Rotoren gegenseit daran, den Rumpf in Drehung zu versetzen. Eine andere Lösung sind zwei oder mehr räumlich voneinander getrennte Rotoren mit einander ausgleichenden Drehrichtungen.

Flugschrauber im Kleinformat

Eine Hubschrauber-Variante aus den 1920er Jahren, die sich während des zweiten Weltkriegs ihrer komplizierten Bauweise wegen nicht durchsetzen konnte, erlebt heute im Kleinformat ein regelrechtes Revival: Der Quadrocopter. Dieses Fluggerät besitzt vier Rotoren an den vier „Ecken“ des Vehikels. Je zwei und zwei drehen sich in entgegengesetzter Richtung und halten das Fluggerät nach Wahl sehr ruhig oder äusserst manövrierfähig in der Luft.

Heute begegnet einem dieses Fluggerät in der Regel unbemannt – als Drohne, wie man sie mittlerweile in jedem Kaufhaus erwerben kann, um den Helikopterflug im Kleinformat zu beobachten und selbst auszuprobieren.

Und seit ihr schonmal mit einem richtigen Helikopter geflogen? Oder habt ihr eine Drohne selbst gesteuert?

Slime ? Wie du ihn wirklich herstellst

Was passt besser zu Halloween als schaurig-schlabbriger Slime? Und am besten noch selbstgemacht? Dieser Gedanke liess mich in den letzten Tagen nicht los, sodass ich mich auf die Suche nach Anregungen für die Slime-Herstellung aus Haushaltszubehör gemacht.

Dabei habe ich festgestellt: Ich bin bei weitem nicht die Einzige, die auf solch eine Idee gekommen ist. Vielmehr wird das Netz von verschiedenen Slime-Rezepten und DIY-Videos geradezu überflutet. Und da jetzt noch ein Slime-Rezept auf den Markt werfen? Das erschien mir nicht gerade sinnvoll.

Allerdings fiel mir, vor allem in den Kommentaren auf Youtube und Co, noch etwas anderes auf: Viele der vorgestellten Slime-Rezepturen scheinen unter realen Bedingungen gar nicht zu funktionieren. Warum das so ist? Weil in der Regel weder die Blog-Autoren oder Video-Produzenten noch ihre Leser, die die Rezepte nachmachen, wissen, wie der spassige Schleim funktioniert. Chemisch gesehen. Wer das nämlich weiss, kann schon vor dem Ausprobieren abschätzen, was überhaupt nicht funktionieren kann.

Deswegen zeige ich euch heute, was Slime eigentlich ist und wie er entsteht – oder eben nicht. Ausserdem gebe ich euch solche Rezepte weiter, die wirklich funktionieren können. So könnt ihr euch möglichst frustfrei an die Herstellung von fantastisch gruseligem Schleim wagen!

Das Grundprinzip: Von der Flüssigkeit zum Slime

Schon vor zwei Wochen habe ich euch mit einem Experiment gezeigt, dass Flüssigkeiten aus vielen, vielen winzigkleinen Teilchen bestehen, die sich zwar dicht zusammenrotten, aber frei gegeneinander beweglich sind. Dieser Umstand ermöglicht es einer Flüssigkeit, sich der Schwerkraft folgend in einem Gefäss so auszubreiten, dass sie den Hohlraum darin ganz und vollkommen ausfüllt.

In dünnflüssigen Flüssigkeiten sind die Teilchen in der Regel klein und rollen ziemlich ungehindert aneinander vorbei. Manche Flüssigkeiten enthalten dagegen grössere Teilchen, meistens lange „Würmer“ aus einer Kette von Atomen. Solche Flüssigkeiten sind oft zähflüssig, denn die „Würmer“ verschlingen sich miteinander oder mit anderen Teilchen. Und wie bei einem Wollfaden-Salat wird ihre Bewegungsfreiheit dadurch eingeschränkt. So brauchen zähe Flüssigkeiten – wie zum Beispiel Speiseöl, Flüssigseife oder Klebstoff – länger, um sich in einem Gefäss vollständig zu verteilen.

Ein guter Slime ist dagegen schwabbelig, lässt sich kneten, formen und reissen, und haftet im Idealfall leicht an Oberflächen und Fingern, ohne sich dabei aufzulösen und Reste zu hinterlassen. In keinem Fall sollte er einfach zerlaufen!

Damit ist ein guter Slime keine wirkliche Flüssigkeit. Ein echter Feststoff ist er allerdings auch nicht – sondern etwas dazwischen. Tatsächlich besteht Slime teils aus fest miteinander verbundenen Teilchen, teils aus Teilchen im „flüssigen“ Zustand, die in einem Netzwerk aus den fest verbundenen Teilchen eingeschlossen sind. Ein solches Teilchengemisch nennt man landläufig ein „Gel“.

Aus welchen Stoffen kann man Slime herstellen?

Um die Zutaten für das Gel – also den Schleim – ordentlich miteinander mischen zu können, verwendet man dazu Flüssigkeiten und ggfs. Pulver. Ausgangstoff ist deshalb normalerweise eine Flüssigkeit (bzw. ein Flüssigkeitsgemisch), welches lange „Würmer“-Teilchen enthält. Dazu kommt ein Stoff, der mit diesen „Würmern“ reagieren und sie dabei zu einem Netz verknüpfen kann. Da das Ausgangs-Flüssigkeits-Gemisch in der Regel auch Wasser enthält, ist für kleine Flüssigkeitsteilchen zum Einschliessen ebenfalls gesorgt.

Das „Original“ aus den USA

Der Slime-Trend ist einmal mehr aus den USA über den grossen Teich zu uns geschwappt. Dort drüben ist es nämlich ziemlich einfach, die idealen Zutaten für DIY-Slime zu bekommen. Hier in der Schweiz bekommt man sie in Reinform allenfalls noch im Schullabor zu fassen – in den EU-Ländern sollte auch das heute nicht mehr möglich sein.

Rezept für DIY-Slime im Schullabor

Du brauchst:
– Polyvinylalkohol (PVA, PVAL), ein Feststoff aus Molekül-„Würmern“, der sich in heissem Wasser lösen lässt
– Borax (Natriumtetraborat), ein wasserlösliches Pulver

2g Polyvinylalkohol werden in 48ml heissem (90°C) Wasser, 2,5g Borax in 50ml lauwarmem Wasser gelöst. Beide Lösungen werden zusammengegeben und verrührt, bis ein Gel mit den gewünschten Eigenschaften entsteht – der Slime! (Eine ausführlichere Anleitung gibt es hier.)

Warum man Borax nicht mehr findet

Das Problem dabei: Borax und andere Verwandte der Borsäure können nach neuesten Forschungsergebnissen Ungeborene im Mutterleib schädigen und die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen. Deshalb werden sie in den EU-Staaten (Deutschland und Österreich) nicht mehr an jedermann verkauft und aus den Schullabors verbannt.

Wenn du in der Schweiz, den USA oder anderen Ländern die Gelegenheit hast, im Labor mit Borax zu arbeiten, achte darauf, das Pulver nicht einzuatmen oder gar zu verschlucken. Wenn du ganz sicher gehen willst, trage Einmal-Handschuhe aus Nitril-Kautschuk (die blauen), um deine Hände zu schützen.

Was passiert bei der Reaktion?

Die „Würmer“-Moleküle des Polyvinylalkohols sehen so aus:

Strukturformel Polyvinylalkohol

 Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus seiner sehr langen Kette aus Kohlenstoffatomen. An jedem „Glied“ dieser Kette sitzt noch ein Pärchen aus Sauerstoff und Wasserstoff. Diese OH-Gruppe ist kennzeichnend für einen Alkohol und kann mit anderen Stoffen reagieren.

Wenn man Borax in Wasser auflöst, entsteht daraus Borsäure, die zu ganz besonderen Teilchen weiterreagiert:

Strukturformel Tetrahydroxyborat

 Diese Teilchen (sie heissen Tetrahydroxyborat) können nun mit den PVA-Würmern reagieren:

Slime - Entstehung: Polykondensation von PVA mit Tetrahydroxyborat

 Dabei vereinigen sich die OH-Gruppen beider Teilchen zu festen Verbindungen, sodass die Borat-Anionen wie doppelköpfige Wäscheklammern zwischen den Würmern hängen und so zu „Knoten“ in einem Netz werden. Dabei bleiben Wasser-Teilchen übrig, die gleich als Füllteilchen im Gel Verwendung finden können.

Die PVA-„Würmer“ sind dabei keinesfalls steif, sondern in ihren Gelenken biegsam, sodass das Gel nicht hart wird, sondern sich eher wie ein vollgesogener Teilchen-Schwamm benimmt!

Wie du trotzdem daheim Slime machen kannst

Auch wenn man die Labor-Zutaten für guten Slime – ganz besonders Borax – nicht einfach kaufen kann, findet man sie in verschiedenen Haushaltszutaten.

Polyvinylalkohol findet man vor allem in verschiedenen Leimen und Klebstoffen. Zudem habe ich auf der Zutatenliste der Colgate-Zahncreme meines Mannes ein wahrscheinlich auch brauchbares „Würmer“-Molekül entdeckt.

Und obwohl Borax in Reinform nicht mehr erhältlich ist, findet man Borsäure und ihre Verbindungen in kleinen Mengen zum Beispiel in Kontaktlinsen-Flüssigkeiten oder Augentropfen. Auf der Liste der Inhaltstoffe können sie als „Borsäure“, „Borat“, „Borat-Puffer“ oder ähnlich erscheinen. Diese kleinen Mengen – zumal nur zum äusseren Kontakt mit dem Menschen bestimmt – sind nicht gefährlich, können aber für die Schleim-Herstellung reichen. Das Rezept für den funktionsfähigen Heim-Schleim findest du in diesem Video:

Die basische Rolle des Natrons

Wozu braucht es da das Natron (anders als von der Youtuberin vorgemacht wird das Wort auf der ersten Silbe betont und das „o“ kurz gesprochen)?

Das Geheimnis eines wirklich schaurig-schwabbeligen Schleims ist, dass die „Knoten“ im PVA-Borat-Netzwerk nicht besonders festgezurrt sind: Die Bindungen zwischen beiden lösen sich relativ leicht und können anderswo neu gebildet werden. So ist das Netzwerk in diesem Gel beim Kneten sehr wandelbar – was den Schleim erst richtig schleimig macht.

Da es sich bei den Bindungen zwischen PVA und Borat um sogenannte „Ester“ handelt – eine Verbindungssorte, die sich in der Gegenwart einer Base besonders leicht zerlegen lässt – vermute ich, dass die Youtuberin das Natron genau deshalb zum Einsatz bringt: Weil es eine Base ist. So macht es meiner Vermutung nach das Netzwerk besonders wandelbar – und den Schleim damit besonders schleimig.

Beim Experimentieren im (Schweizer) Schullabor habe ich nämlich gelernt: Wenn man nur genügend Borax mit dem richtigen Leim vermischt (ohne Base), erhält man statt schleimigem Slime elastische, springende Gummibälle (in denen die Netzwerk-„Knoten“ entsprechend fest gezogen und nicht mehr veränderbar sind)!

Andere Rezepte und warum sie nicht funktionieren

Einkomponenten-Schleime zum Tiefkühlen

Durch das Abkühlen werden die „Würmer“-Moleküle – zum Beispiel die Tenside in Seifen – in zähen Flüssigkeiten steif, sodass der Salat aus versteiften „Würmern“ Ähnlichkeit mit einem Netzwerk annimmt und das Ganze mitunter wie Schleim aussieht. Es entstehen allerdings keine festen Verbindungen zwischen den Molekülen. Das merkst du spätestens dann, wenn du die kalte Masse aus ihrem Behälter nehmen möchtest und sie sich eher wie eine Creme ähnlich verteilt. Ausserdem wird das Ganze wieder flüssig, sobald es warm wird.

Seife mit Salz oder Zucker

Seife enthält Fettsäurereste – das sind vergleichsweise kurze Teilchen-„Würmer“. Kochsalz (NaCl) besteht aus Ionen, die jeweils nur ein Atom enthalten. Damit lassen sich keine festen Bindungen zu zwei verschiedenen Atom-Ketten bilden. Dafür entzieht das Salz der Flüssigseife Wasser, was eine ursprünglich cremige Flüssigseife „schleimiger“ macht – aber wiederum nicht zu festen „Knoten“ führt.

Auch Zucker zieht Wasser an. Zudem enthalten Zucker-Moleküle einige OH-Gruppen, die möglicherweise zur Bildung von Ester-„Knoten“ geeignet sind. Also habe ich das ausprobiert und Spülmittel mit Zucker verrührt. Als ich ein bis drei Tropfen Haushaltsessig dazugegeben habe (die Gegenwart einer Säure kann die Entstehung von Estern fördern), ist tatsächlich ein „Glibber“ entstanden, der sich an meinem Rührstab festgeklammert hat. Aber wirklich brauchbarer Schleim wurde das nicht.

Kein Wunder: Schliesslich sind weder die Fettsäure- noch die Zucker-„Würmer“ auch nur annähernd so lang oder haben so viele Verbindungsmöglichkeiten wie PVA. Was immer ich da dazu gebracht habe, sich zu verbinden – das Ergebnis war allenfalls Möchtegern-Schleim.

Und wenn man für Borax einen Ersatz findet?

Manche Slime-Experimentatoren berichten, dass sie mit bestimmten Flüssig-Waschmitteln und PVA-haltigem Leim zum Erfolg gefunden haben (solchen Slime made in Switzerland gibt es hier). Ich habe mir die Inhaltsstoff-Liste eines solchen „geeigneten“ Waschmittels angesehen und verdächtige die darin enthaltenen „optischen Aufheller“, einen brauchbaren Ersatz für die Borat-„Knoten“ abzugeben. Die sehen nämlich (zum Beispiel) so aus:

optischer Aufheller - Borax-Ersatz?

 Anstelle der Bor-Sauerstoff-„Klammern“ enthalten diese Moleküle Schwefel-Sauerstoff-Gruppen (sogenannte Sulfonsäure-Gruppen), die ebenfalls für die Entstehung von Ester-Bindungen in Frage kommen.

Fazit

Wenn du wirklich brauchbaren Slime herstellen möchtest, brauchst du unbedingt lange, reaktionsfreudige Molekül-Würmer (sogenannte Polymere, z.B. Polyvinylalkohol) und eine Verbindung aus der Borsäure-Familie (z.B. Borat-Puffer) oder einen würdigen Ersatz dafür. Achte also beim Einkauf von Zutaten genau darauf, ob diese wichtigen Stoffe auf der Inhaltsstoff-Liste zu finden sind und probiere mit kleinen Mengen, ob das Ganze funktioniert – oder mache das Experiment (in der Schweiz) im (Schul-)Labor, wo du die Stoffe in Reinform in sicherer Umgebung verwenden kannst!

Entsorgung

Das gesundheitsschädliche Borax muss als Sondermüll entsorgt werden, Leim- oder Waschmittelreste gemäss den Angaben auf der Verpackung. Wenn Schleim-Reste Borax enthalten, gehören sie damit in den Sondermüll – denn der gefährlichste Bestandteil gibt bei der Entsorgung den Ton an!

Gips- Ein Einmal-Werkstoff?

Warum kann man Gips nach dem Aushärten nicht einfach in Wasser aufweichen und wiederverwenden? – fragt der neugierige Sohn einer Leserin.

Diese spannende Frage habe ich samt Antwort zur Blogparade „Krasse Alltagsfragen“ auf 100Woerter.de eingereicht.

Die gute Nachricht: Wiederverwenden kann man Gips schon, sogar vollständig und beliebig oft!

Die schlechte Nachricht: Einfach wieder aufweichen funktioniert tatsächlich nicht (und für viele Anwendungen, wie Gipsverbände und -modelle ist das ja eigentlich sehr praktisch).

Aber warum wird Gipsmasse eigentlich hart, und wie kann man sie nun wiederverwenden?

 

Was ist Gips?

Gips ist aus Chemikersicht eine Ionenverbindung, also ein „Salz“ namens Calciumsulfat. Er setzt sich also aus Calcium- (Ca2+-) und Sulfat(SO42--)Ionen zusammen, die sich zu einem regelmässig aufgebauten Kristallgitter anordnen. Das besondere an diesem Ionenkristall ist allerdings, dass zwischen den Ionen auch Wassermoleküle in den Kristall eingebaut sind. Die vollständige chemische Formel für Gips – wie er in der Natur vorkommt – lautet daher

CaSO4 * 2H2O (zu lesen: Calciumsulfat mit 2 Wasser).

Der vollständige chemische Name lautet damit „Calciumsulfat-Diyhdrat“. Die Formel verrät uns: In diesem Kristall findet man für jedes Calcium- bzw. Sulfat-Ion zwei Moleküle Wasser. Das Wasser, welches auf solche Weise in Ionenkristallen steckt, wird auch „Kristallwasser“ genannt.

Gips ist ein sehr häufig vorkommendes Mineral und wird von den Mineralienforschern auch Gipsspat oder Selenit genannt.

Mineral: Gips-Kristalle (Gipsspat, Selenit) aus meiner Mineraliensammlung

Gipskristalle aus meiner Mineraliensammlung

Solche Gipskristalle sind genauso wie ausgehärtete Gips-Modelle oder -verbände in Wasser praktisch unlöslich.

 

Wie macht man daraus den Werkstoff zum „Gipsen“?

Die Wassermoleküle in einem Ionenkristall sind nicht fest in das Gitter eingebaut – sie stecken vielmehr passgenau in den Lücken. So kann das Kristallwasser wie flüssiges Wasser verdampfen, wenn man den Kristall erwärmt: Die Wassermoleküle machen sich in die umgebende Luft davon, sodass der Kristall, CaSO4, ohne Wasser zurückbleibt.

Um Gipspulver zum Handwerken, Modellieren oder zur Versorgung von Knochenbrüchen herzustellen, werden Gipsgestein oder Gipsabfälle von anderen Prozessen in der Chemie-Industrie fein gemahlen und auf ca. 130°C erhitzt. Wenn man den Gips nicht zu lange bei dieser Temperatur „brennt“, verdampfen rund drei Viertel des ursprünglichen Kristallwassers aus dem Gips. Zurück bleiben Kristallgitter der Zusammensetzung

Halbe Wassermoleküle gibt es natürlich nicht! Vielmehr sagt uns die Formel, dass nun nurmehr auf jedes zweite Calcium- bzw. Sulfat-Ion ein Wassermolekül kommt.

Diesen „gebrannten“ Gips, auch Calciumsulfat-Halbhydrat oder Bassanit genannt, kannst du im Baumarkt oder im Bastelbedarf in Pulverform zum Ansetzen kaufen.

 

Warum wird angesetzter Gips hart?

Das gebrannte, wasserarme Gipspulver kann sich das fehlende Kristallwasser aus der Umgebung zurückholen – wenn es in der Umgebung Wasser hat. So ist gebrannter Gips mässig wasserlöslich. Sobald du das Gipspulver in Wasser streust (laut Gipsherstellern ca. 150g Gips in 100ml Wasser), wachsen darin binnen Minuten neue Kristalle, welche die ursprüngliche Menge an Kristallwasser (CaSO4* 2H2O) enthalten:

Diese Kristalle haben die Form langer, feiner Nadeln, die in der Enge des Gipsbreies zunehmend miteinander verfilzen. Dieser Kristallfilz erscheint uns schliesslich als feste, starre Masse: Der Gips „bindet ab“.

Dabei wächst die Gipsmasse ein kleines Bisschen: Ihr Volumen wird um ca. 1% grösser! Ausserdem wird beim Abbinden Energie frei (die Reaktion ist exotherm). Die Natur ist nämlich faul, sodass alle Dinge danach streben, möglichst viel Energie loszuwerden. Und Calciumsulfat mit 2 Wasser ist ein energieärmerer („bequemerer“) Zustand als Calciumsulfat mit 1/2 Wasser. So sorgt die Bequemlichkeit der Natur dafür, dass Gipsmasse ohne dein Zutun „von selbst“ abhärtet. Die Temperatur der Gipsmasse kann dabei anfangs sogar um ein paar Grad, also merklich ansteigen!

Gebrannter Gips kann sich sein Wasser damit überigens auch aus feuchter Luft holen – bewahre Gipspulver daher unbedingt trocken und in luftdicht verschlossenen Behältern auf!

 

Wie lange dauert das Abbinden? Kann man die Abbindezeit steuern?

Heimwerker und Gipshersteller geben für frischen Gips, der ohne Umrühren in sauberen Gefässen angesetzt wird, eine Zeit von bis zu 20 Minuten bis zum Abbinden an.

Das Wachstum von Kristallen kann allerdings erleichtert bzw. beschleunigt werden, indem man ihnen einen „Ansatz“ zum Weiterwachsen bietet. Am einfachsten wachsen bereits vorhandene Gipskristalle weiter. So geben Partikel in altem Gips, die sich bereits Wassermoleküle aus der Luft einverleibt haben, oder alte, bereits ausgehärtete Gipsreste im Gefäss perfekte „Kristallisationskeime“ ab. Doch auch andere Salze aus kleinen Ionen, wie Kochsalz, Natron, Kalk oder andere, basische Sulfate können den nötigen „Anreiz“ zum Anwachsen bieten.

Setze deinen Gips daher unbedingt in einem wirklich sauberen Gefäss an – es sei denn, du möchtest, dass er sehr schnell abbindet. Dann kann ein wenig zugegebenes Salz oder auch schon blosses Umrühren der Gipsmasse gemäss Erfahrungen von Heimwerkern das Härten massgeblich beschleunigen.

Erhitze den Gips allerdings nicht, wenn zu viel Wasser darin sein sollte! Kristalle brauchen nämlich Zeit zum Wachsen. Werden sie, zum Beispiel durch das gezielte Verdampfen des Wassers, gehetzt, werden die Kristalle weniger formschön oder gar gross – und der abgebundene Gips damit weniger beständig.

Grosse bis sehr grosse Moleküle in der Gipsmasse stören den Aufbau der Kristalle: Essig und andere organische Verbindungen bestehen aus solchen mehr oder minder sperrigen, oft verzweigten Molekülen. Zu den ganz Grossen zählt auch Tapetenkleister (der besteht aus Methylzellulose, regelrechten „Spaghetti-Molekülen“  aus tausenden bis zehntausenden Atomen!), den manche Heimwerker zur Verzögerung des Abbindens in Gipsmasse mischen. Es ist nämlich ziemlich mühsam, solche Molekülbrocken in regelmässige Kristalle einzubauen – und das Ergebnis ist dann auch nicht gerade schön. So bindet Gips mit solchen Zusätzen nicht nur langsamer ab, sondern ist nachher meist auch weniger beständig.

 

Wie kann man Gips wiederverwenden?

Das Bisherige zusammengefasst: Gips ist ein Mineral, das in der Natur vorkommt. Das Gipspulver, aus dem man Gipsmasse zum Verarbeiten ansetzen kann, wird daraus hergestellt, indem man durch Erhitzen einen Teil des Kristallwassers aus dem Gips entfernt. Beim Abbinden der Gipsmasse wird dann neues Wasser in die Kristalle eingebaut.

Das bedeutet, dass auch bereits ausgehärteter Gips zerkleinert und erneut gebrannt, d.h. erhitzt und um einen Teil seines Kristallwassers gebracht werden kann. Die dazu nötige Temperatur von 130°C kann theoretisch schon in einem Haushaltsbackofen erreicht werden. Anschliessend kann der Gips neu mit Wasser angesetzt und verarbeitet werden.

Deshalb wird Gips von der Industrie auch als „vollständig recycelbarer Rohstoff“ angepriesen!

Bei all dem sollte man nur achtgeben, den Gips nicht zu lange oder gar zu heiss zu brennen: Spätestens bei 1180°C entsteht nämlich Anhydrit, CaSO4, ein wasserfreier „Gips“-Kristall, der sein Wasser nur langsam bis gar nicht zurücknimmt: Dieser Gips ist „totgebrannt“ – nicht mehr zur Verarbeitung zu gebrauchen.

Ob und wie Gips sich im Hausgebrauch recyceln lässt, habe ich hier ausprobiert als Freitags-Experiment vorgestellt: Es funktioniert!

Quanten zum Anschauen: Materiewellen sichtbar gemacht

Dieser Artikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2017. Ich freue mich sehr, nach 2015 und 2016 einmal mehr dabei sein zu dürfen! Deshalb gibt es ihn für einmal auswärts zu lesen – und eure Mitwirkung ist gefragt!

Quanten sind in aller Munde – sie werden rege diskutiert und als Erklärung für allerlei Wundersames ge- oder sogar missbraucht. Da verwundert es nicht, dass die Quanten selbst sich in meinen Beitrag eingeschlichen haben und höchstselbst einen grundlegenden Einblick in ihre Welt geben. Wie sich zeigt, ist diese gar nicht so übernatürlich wie sie vielen scheint – sondern wir Menschen sind sie einfach nicht gewohnt.

Was die Quanten Spannendes über ihre ungewohnt seltsame Welt zu erzählen haben, könnt ihr in meinem Wettbewerbsbeitrag auf Astrodicticum Simplex nachlesen und eure eigene Stimme beim Leser-Voting hinterlassen. Dabei könnt ihr sogar etwas gewinnen!

Eine Übersicht über alle teilnehmenden Artikel findet ihr hier. Einzelheiten zu Ablauf und Abstimmung sind am Anfang dieses und des Wettbewerbsbeitrags verlinkt!

Und für alle, die eine Kurzform bevorzugen, habe ich das Geheimnis der Quantenwelt in einem weiteren kleinen Gastbeitrag auf 100Wörter.de auf gerade einmal 100 Worte komprimiert – fast schon Quanten-Massstab für meine Verhältnisse!

Dank Maike „Miss Declare“ und Instagram habe ich eine ungewöhnliche Blogparade entdeckt, die um so besser in Keinsteins Kiste passt. Denn es geht bei Meike auf Mathsparks um Mathematik – und ohne Mathematik wäre die Chemie wohl kaum halb so spannend, wie sie ist.

Deshalb geht es heute um Mathematik in der Chemie. Und wer nun abgehobenes Zeug wie die Quantenmechanik fürchtet, kann beruhigt sein: Die Mathematik, die ich meine, erfordert einzig Grundschul- bzw. Primarschul-Kenntnisse und kann euch beim Experimentieren sehr nützlich sein. Denn ich spreche…ähm schreibe… von der Stöchiometrie.

Mit der Stöchiometrie können Chemiker nämlich berechnen, in welchem Verhältnis sie Stoffe einsetzen müssen, damit diese möglichst vollständig miteinander reagieren können.  Und weil sie dabei von der jeweiligen Reaktionsgleichung ausgehen, erkläre ich euch heute

  • Wie man Reaktionsgleichungen richtig liest und versteht
  • Wie die Chemiker sich unvertretbar grosser Zahlen entledigen
  • Wie man von einer Reaktionsgleichung auf abmessbare Stoffportionen kommt

Und damit es auch wirklich Spass macht zeige ich euch, wie ihr damit und mit ein paar Dingen aus dem Haushalt eure eigene Rakete starten lasst!

Wie du Reaktionsgleichungen liest und verstehst

Atome und Moleküle reagieren nicht irgendwie miteinander, sondern in festgelegten Verhältnissen. Diese Verhältnisse werden in einer Reaktionsgleichung zum Ausdruck gebracht. Und obwohl darin anstelle eines Gleichheitszeichens ein Pfeil von links nach rechts auftaucht, handelt es sich dabei um eine richtige mathematische Gleichung. Denn es gilt stets das Gesetz der Massen- bzw. Stoffmengenerhaltung:

Bei einer chemischen Reaktion geht kein Teilchen verloren!

Das bedeutet, links und rechts des Reaktionspfeils steht immer die gleiche Anzahl Atome:

Dabei werden einzelne Atome der jeweiligen Sorten durch Elementsymbole dargestellt. So steht ein „H“ in Gleichung (1) für ein Wasserstoff-Atom. Wenn in einem Molekül bzw. Teilchen mehrere Atome der gleichen Sorte vorkommen, verwendet man das Elementsymbol einmal und gibt die Anzahl der Atome als Index an: H2 steht also für ein Molekül, das aus zwei Wasserstoffatomen besteht!

Wenn mehrere einzelne Atome einer Sorte vorkommen, verwendet man das Elementsymbol einmal und schreibt die Anzahl der Atome als Faktor davor:

Gleichung (2) meint das gleiche wie Gleichung (1): Zwei mal ein Wasserstoffatom bzw. zwei Wasserstoffatome reagieren zu einem Wasserstoffmolekül, das aus zwei Wasserstoffatomen besteht.

Auch ganze Moleküle können durch einen Faktor vervielfacht werden:

Gleichung (3) meint also: Vier Wasserstoffatome reagieren zu zwei Wasserstoffmolekülen aus je zwei Wasserstoffatomen. Dabei stehen auf jeder Seite des Pfeils insgesamt 4 Wasserstoffatome – die beiden Seiten der Gleichung sind damit „gleich“, wie es sich für eine richtige Gleichung gehört.

Verschiedene Teilchen werden schliesslich durch „+“-Zeichen verbunden aufgelistet:

Gleichung (4) meint also: Zwei Wasserstoffmoleküle und ein Sauerstoffmolekül (Chemiker sind ebenso bequem wie Mathematiker und sparen sich den Faktor „1“) reagieren zu zwei Wasser-Molekülen. Zur Kontrolle: Links wie rechts stehen insgesamt 4 Wasserstoff- und 2 Sauerstoff-Atome – die Gleichung stimmt soweit.

Das Mol als Chemikerdutzend

Beim Experimentieren geht man allerdings nicht mit einzelnen, sondern mit sehr, sehr, sehr vielen Atomen um. Ein Gramm Wasserstoff besteht aus rund 602’000’000’000’000’000’000’000 (6,02•1023) Atomen! Um die vielen Nullen bzw. die Gleitkommazahlen mit unvorstellbaren Exponenten zu vermeiden, haben die Chemiker festgelegt:

6,02*1023 Atome sind ein Mol Atome.

Dieser Trick ist auch in jedermanns Alltag verbreitet: Wem 12 Eier als eine schwer zu begreifende Menge erscheinen, der  bestellt ein Dutzend Eier und kann mit Hilfe des kleinen 1×1 der 12 auch den Output eines produktiven Hühnerstalls spielend bewältigend (zwei Dutzend sind 24, drei Dutzend 36,…).

Jetzt können Stoffmengen bequem in der Einheit „mol“ (ein Mol = 1 mol) angegeben und verwendet werden. Die Gleichung (2) kann man damit auch so lesen: Zwei Mol Wasserstoffatome reagieren zu einem Mol Wasserstoffmolekülen.

Damit gibt die Reaktionsgleichung auch Auskunft über anfassbare Mengen!

Da das Abzählen von Atomen in Zahlen mit 23 Nullen aber mehr als mühsam ist, misst man Stoffmengen in der Praxis mit praktischeren Grössen – wie der Masse, die man wiegen kann. Die Masse/das Gewicht eines Mols Atome eines jeden Elements findet man in fast jedem Periodensystem. Die klugen Chemiker haben die Einheit der dort angegebenen Masse eines Atoms so gewählt, dass der Betrag des Atomgewichts dem Betrag der Masse eines Mols Atome in Gramm entspricht!

Das heisst, sie haben festgelegt, dass das aus 12 Kernteilchen bestehende Kohlenstoffatom 12 atomare Masseneinheiten („u“) bzw. ein Mol Kohlenstoffatome 12 Gramm wiegt. Damit wiegt ein Kernteilchen rund 1 u, bzw. ein Mol Wasserstoffatome, deren Kerne aus jeweils nur einem Proton bestehen, rund 1 Gramm. Kurz gesagt: Die molare Masse des Wasserstoffatoms beträgt rund ein Gramm pro Mol (1 g/mol).

Die molare Masse eines Moleküls erhält man, indem man die molaren Massen seiner Atome einfach zusammenzählt. Ein Mol Wasserstoffmoleküle H2 wiegt also 1 + 1 = 2 Gramm, d.h. die molare Masse des Wasserstoffmoleküls beträgt 2 g/mol.

Von der molaren Masse zur fertigen Stöchiometrie

Wer also eine Reaktionsgleichung kennt, die über verwendete Stoffmengen Auskunft gibt, kann die Zutaten für eine Reaktion entsprechend abwiegen:

Gleichung (4) bedeutet: 2 Mol Wasserstoff-Moleküle und 1 Mol Sauerstoff-Moleküle reagieren zu 1 Mol Wassermolekülen.

1 Mol Wasserstoff-Moleküle wiegen 2g, 1 Mol Sauerstoff-Moleküle wiegen 32g (das Periodensystem verrät: 1 Mol O-Atome wiegt rund 16g), 1 Mol Wassermoleküle wiegen 1 + 1 + 16 = 18g.

Man kann also auch lesen:  2 * 2 = 4 Gramm Wasserstoff und 32 Gramm Sauerstoff reagieren zu 2 * 18 = 36 Gramm Wasser (der Massenerhaltung ist damit wiederum Genüge getan!).

Wenn ich also 36 Gramm Wasser (z.B. in einer Brennstoffzelle) herstellen möchte, brauche ich dazu 4 Gramm Wasserstoff und 32 Gramm Sauerstoff. Benötige ich mehr Wasser, kann ich diese Zahlen einfach vervielfältigen (für 360g Wasser brauche ich 40g Wasserstoff und 320g Sauerstoff), benötige ich weniger, kann ich mit Bruchteilen arbeiten (für 3,6g Wasser brauche ich 0,4g Wasserstoff und 3,2g Sauerstoff).

Wer sich nun fragt, wie er Gase wiegen soll: Da 1 Mol jedes beliebigen Gases aus kleinen Molekülen bei gegebener Temperatur und gegebenem Druck das gleiche Volumen einnimmt (22,4 l bei 0°C und 1bar), können die Stoffmengen ebenso gut in Volumina, die sich leichter messen lassen, umgerechnet werden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wie Essig und Natron eine Rakete zum Fliegen bringen

Für den Praxistest eurer Stöchiometrie-Kenntnisse eignen sich vielmehr feste und flüssige Reaktionspartner. Die kann man nämlich wesentlich einfacher abmessen. Zum Beispiel für den Start einer Rakete. Und den könnt ihr mit ein paar einfachen Zutaten aus dem Haushalt verwirklichen: Natron und Haushaltsessig!

Im Artikel zu den 3 Party- und Fasnachtsspektakeln mit CO2 könnt ihr nachlesen, wie ihr aus diesen beiden Stoffen reichlich Kohlenstoffdioxid-Gas gewinnen und damit zum Beispiel einen Leuchtvulkan zum Ausbruch bringen könnt. In Reaktionsgleichungen lässt sich das Ganze so darstellen:

 

Essigsäure (CH3COOH) ist – wie der Name sagt – eine Säure und wird von Natriumhydrogencarbonat (Natron, NaHCO3), das eine Base ist, neutralisiert, wobei Kohlensäure (H2CO3) und Natriumacetat (CH3COOH) entstehen. Für den Antrieb entscheidend ist jedoch, was danach passiert:

Kohlensäure ist instabil und zerfällt in Wasser und gasförmiges Kohlenstoffdioxid (CO2)! Und Gase haben die Eigenschaft, dass sie sehr viel Platz einnehmen – wenn sie können. So kann das Kohlenstoffdioxid, wenn es aus einer Düse ausströmt, als Rückstossantrieb für eine Modell-Rakete herhalten. Dazu lässt man die Reaktionen (5) und (6) zwischen Essig und Natron in einem geschlossenen Behälter ablaufen, dessen einziger Ausgang die Antriebsdüse am hinteren Ende der Rakete ist, sodass das Gas dort ausströmen muss, sobald es im Behälter zu eng wird.

Das Problem dabei: Bei den Reaktionen bleibt eine ganze Menge gewichtiger „Abfall“ in der Rakete zurück, der mitfliegen muss, zum Beispiel das Natriumacetat aus Reaktion (5) und eine grosse Menge Wasser, die schon im Haushaltsessig enthalten ist und als Lösungsmittel dient. Damit die Rakete bestmöglich fliegen kann, ist es daher wichtig,  dass sie nicht unnötig mit überflüssigem, aber schwerem Material beladen wird (das gilt übrigens für alle Raketentreibstoffe, auch für jene von „richtigen“ Weltraum-Raketen).

Mit anderen Worten: Die Reaktionsteilnehmer, mit denen die Rakete beladen wird, sollten so vollständig wie möglich miteinander reagieren, sodass möglichst wenig davon übrig bleibt. Und ihr könnt die Stöchiometrie nutzen, um das zu erreichen!

Wie du den perfekten Treibstoff für deine Rakete berechnest

Zunächst sehen wir uns die Reaktionsgleichungen für die Antriebs-Reaktion an: Wenn ihr Gleichung (6) als Folge von Gleichung (5) betrachtet, erkennt ihr, dass ein Molekül Essigsäure und ein Äquivalent* Natron nötig sind, um ein Molekül Kohlenstoffdioxid zu erzeugen. Kurz ausgedrückt kann man dies auch so schreiben:

*Natron ist ein Salz, d.h. es ist nicht aus Molekülen aufgebaut, sondern ein beliebig grosser Ionenkristall (bzw. ein Pulver aus solchen Kristallen). Die Formel gibt das Verhältnis an, in welchem die Ionen im Kristall vorkommen und wird in Reaktionsgleichungen und beim Rechnen genauso (also äquivalent) verwendet wie die Summenformel eines Moleküls.

Optimal ist demnach ein Treibstoffgemisch, das 1 Mol Essigsäure-Moleküle und 1 Mol Natron Äquivalente enthält. (Für die Schlaumeier unter euch: Ich lasse hier die besonderen Regeln für chemische Gleichgewichte, zu welchen diese Reaktionen zählen, ausser Acht (Mit Le Châtelier erkläre ich auf dem Flughafen genauer, was es damit auf sich hat). Für den Nachbau der Modell-Rakete genügt jedoch auch die Stöchiometrie allein!)

Um zu erfahren, wieviel der Stoffe ihr verwenden müsst, benötigt ihr nun die molaren Massen der Moleküle bzw. Äquivalente, die ihr aus den molaren Massen ihrer Atome zusammensetzen könnt. Das Periodensystem verrät dazu:

Wasserstoff (H) wiegt rund 1 g/mol, Kohlenstoff ( C) rund 12 g/mol, Sauerstoff (O) rund 16 g/mol, Natrium (Na) rund 23 g/mol.

Daraus ergibt sich für

  • Essigsäure (CH3COOH bzw. C2H4O2): 2*12 + 4*1 + 2*16 = 60 g/mol
  • Natron (NaHCO3): 1*23 + 1*1 + 1*12 + 3*16 = 84 g/mol

Ein Mol Essigsäure sind demnach 60 Gramm, die mit 84 Gramm Natron reagieren können. Bevor ihr ans Wiegen geht, gibt es aber noch ein Problem: Haushaltsessig besteht nur zu einem Bruchteil aus Essigsäure – der Rest ist Wasser. Der Haushaltsessig aus dem Supermarkt hier in der Schweiz enthält so nur rund 10 (Volumen-)% Essigsäure.

Glücklicherweise haben sowohl Essigsäure als auch Wasser eine Dichte von rund 1 g/cm3 (bzw. 1g/ml), sodass ihr auch für die Dichte des Gemischs aus beiden eine Dichte von rund 1g/ml annehmen könnt. Das bedeutet, dass ihr die Masse der Flüssigkeiten in Gramm 1:1 in das Volumen in Kubikzentimetern bzw. Millilitern umrechnen könnt.

Damit enthalten 10g bzw. 10ml Schweizer Haushaltsessig nur 1g Essigsäure und 9g Wasser. Für ein Mol Essigsäure benötigt ihr also 600g oder 600 Milliliter Essig – und eine ziemlich grosse Rakete. Deshalb macht es Sinn, die Menge der eingesetzten Stoffe auf ein Fünftel (oder noch weiter) herunter zu rechnen:

0,2 Mol Essigsäure sind 12g – das entspricht 120g bzw. 120ml Schweizer Haushaltsessig – und 0,2 Mol Natron sind 16,8g. Diese Mengen finden problemlos in einer 0,5l PET-Flasche Platz.

Tipp: Wer noch mehr Gewicht sparen möchte, verwendet „Essigessenz“, die in Deutschland im Supermarkt erhältlich ist und 25% Essigsäure enthält. So muss nicht das Zehnfache, sondern nur das Vierfache der berechneten Menge Essigsäure eingesetzt werden!

Nun steht eurem Raketenstart nichts mehr im Wege!

EXPERIMENT: RAKETENSTART MIT ESSIG UND NATRON

Ihr benötigt

  • Eine 0,5l PET-Flasche
  • Etwas Pappe zum Basteln, eine Untertasse oder einen Zirkel, eine Schere, Klebeband
  • Haushaltsessig oder Essigessenz (aus der Reinigungsabteilung im Supermarkt)
  • Waage und ggfs. Messbecher mit 10ml- oder 20ml-Teilstrichen
  • Frischhaltefolie
  • Natron-Pulver (als Backtriebmittel bei den Backzutaten im Supermarkt)
  • Eine Luftballon-Hülle
  • Eine Ahle oder einen spitzen Schraubenzieher
  • 3 kleine Blumentöpfe oder andere gleich hohe Gegenstände
  • Eine spitze Nadel
  • Schutzbrille, Laborkittel oder entbehrliche Kleidung, ggfs. eine grosse Giesskanne oder einen Eimer voll Wasser
  • Platz für die Startrampe und trockenes Wetter 😉

Durchführung

Die PET-Flasche wird eure Rakete sein. Der Schraubverschluss wird dabei zur Antriebsdüse, der Boden der Flasche zur Raketenspitze. Damit das Ganze auch nach einer Rakete aussieht, könnt ihr eurer Flasche eine spitze Kappe und ein Leitwerk aus Pappe basteln:

  • Zeichnet mit Hilfe der Untertasse oder des Zirkels einen Kreis auf die Pappe und schneidet ihn aus. Schneidet anschliessend ein „Tortenstück“ (etwa ein Sechstel des Kreisumfangs) aus dem Kreis heraus und schiebt die geraden Kanten übereinander, sodass ein Kegel entsteht, der genau über den Boden eurer PET-Flasche passt. Fixiert den Kegel mit Klebeband (Flüssig- oder Heisskleber eignen sich dazu auch, allerdings benötigen sie geraume Zeit zum Trocknen. Eine Büroklammer hält den Kegel währenddessen zusammen. Klebeband hält hingegen sofort!).
  • Klebt den fixierten (und trockenen) Kegel auf den Boden eurer Flasche, indem ihr einen Streifen Klebeband halb um den Flaschenkörper, halb um den Kegel legt und vorsichtig andrückt.
  • Fertigt für das Leitwerk mindestens drei Finnen („Flügel“) aus Pappe an.
Vorlage für das Leitwerk der Rakete
  • Das Bild zeigt eine Vorlage für meine Leitwerk-Finnen: Zeichnet diese dreimal auf die Pappe oder klebt Schablonen aus Papier darauf und schneidet sie aus. Faltet jede Finne entlang der mittleren gestrichelten Linie nach „innen“. Dann faltet die beiden Seitenflügel in die andere Richtung, also nach „aussen“.Befestigt die Seitenflügel mit Klebeband so am Flaschenkörper, dass die Spitzen der Finnen ein wenig über den aufgeschraubten Deckel hinausragen. Der Abstand zwischen den Finnen beträgt bei 3 Finnen einen Drittelkreis (120°), bei 4 Finnen einen Viertelkreis (90°) etc (Ich möchte Gewicht sparen, weshalb ich nur 3 Finnen verwende).

Da die Öffnung der Flasche zu weit ist, um den Ausstoss ausreichend zu bündeln, verengt ihr ihn als nächstes zu einer Antriebsdüse.

  • Durchbohrt den (abgeschraubten) Deckel der Flasche in der Mitte mit der Ahle bzw. dem Schraubenzieher, sodass ein wenige Millimeter durchmessendes Loch entsteht. Schneidet zudem ein Stück aus der Ballonhülle, das sich bequem über die Flaschenöffnung legen lässt (Durchmesser ca. 4 bis 5 cm) und legt dieses zum Start bereit.

Jetzt ist es an der Zeit, den Raketentreibstoff vorzubereiten.

  • Legt ein Stück Frischhaltefolie auf die Waage, tariert sie und wiegt 10,6g (auf der Haushaltswaage rund 11g) Natron darauf ab. Rollt anschliessend das Pulver so in die Folie ein, dass ein Päckchen entsteht, welches durch die Öffnung der PET-Flasche passt.
Einwaage und Verpackung von Natron
links: Natronpulver auf der Waage; rechts: das fertige Natron-Päckchen
  • Messt 120 Milliliter Haushaltsessig ab (wenn ihr keinen ausreichend genauen Messbecher habt, könnt ihr auch 120g Haushaltsessig in einem Gefäss (tarieren!) abwiegen) und stellt ihn zum Start bereit.

Und nun zu den Startvorbereitungen:

  • Stellt die Blumentöpfe so auf dem Startplatz auf, dass ihr die Rakete auf den Finnen darauf stellen könnt. Klebt die Töpfe mit etwas Klebeband fest, damit sie nicht verrutschen können.
  • Nun solltet ihr folgendes am Startplatz griffbereit haben: Die Flaschen-Rakete, den durchbohrten Deckel, das Stück Luftballonhaut, das Gefäss mit dem Essig, das Natron-Päckchen und die spitze Nadel.
  • Dreht die Rakete mit der Spitze nach unten und füllt vorsichtig den Essig durch die Flaschenöffnung ein (ein Trichter kann dabei hilfreich sein).
  • Schiebt das Natron-Päckchen fast vollständig in die Öffnung, sodass es zunächst mit dem hinteren Ende darin hängenbleibt. Legt die Luftballonhaut über die Öffnung und das Ende – erst dann drückt das Päckchen vollständig in die Flasche!

Jetzt muss es zügig gehen – denn die Reaktion zur CO2-Erzeugung ist nicht mehr aufzuhalten: Achtung! Von jetzt an steht die Rakete zunehmend unter Druck! Der Essig wird langsam in das Folienpäckchen eindringen und mit dem Natron zu reagieren beginnen. Das entstehende CO2 treibt das Päckchen zunehmend auseinander, sodass die Reaktion sich beschleunigt. Wenn ihr ungeduldig seid, schüttelt die Flasche etwas, sodass das Päckchen schneller auseinanderfällt.

  • Schraubt den Deckel sorgfältig über der Ballonhaut fest und stellt die Rakete wieder aufrecht auf ihre Sockel.
  • Wartet, bis die Gasentwicklung in der Rakete (das Sprudeln und Brausen) weitgehend zum Stillstand gekommen ist. Nehmt dann grösstmöglichen Abstand zur Rakete hinein und stecht mit gestrecktem Arm die Nadel durch das Loch im Deckel in die Ballonhaut (Wer wirklich sicher leben möchte, montiert die Nadel auf eine Stange und übt vorher, bis er die Spitze damit aus grösserem Abstand durch das Loch befördern kann!).

Die Rakete wird sich sofort mit lautem Zischen in die Luft erheben – verliert nicht die Nadel vor Schreck 😉 und geht sofort nach dem Stich auf Abstand! Mit dem CO2 strömt nämlich unweigerlich auch essighaltige Flüssigkeit aus der Düse!

Sicherheitshinweise

Essigsäure ist eine schwache Säure, die – besonders auf 10% verdünnt – auf menschlicher Haut kaum ätzend wirkt. Wenn ihr Essigspritzer abbekommt, genügt es daher, sie mit viel Wasser abzuwaschen.

Auf Basen wie Natron reagiert der Körper wesentlich empfindlicher – gebt Acht, dass ihr das Natronpulver nicht in die Augen bekommt oder einatmet!

Die Augen schützt ihr deshalb mit der Schutzbrille – falls trotzdem etwas ins Auge geht, spült es gründlich (mindestens 10 Minuten!) mit Wasser aus und lasst im Zweifelsfall einen Augenarzt darauf schauen. Zuschauer sollten vorsorglich einige Meter Abstand zur Startrampe einhalten!

Viele Materialien werden dennoch von Essigsäure angegriffen: Wenn Spritzer auf eure Kleidung kommen, wascht diese sofort gründlich aus (und tragt zur Sicherheit entbehrliche Kleidung oder/und einen Kittel – Säurelöcher zeigen sich manchmal erst nach der nächsten Maschinenwäsche!). Marmor und Kalkstein eignen sich zudem nicht als Startrampe, da auch sie von Essigsäure angegriffen werden (sie bestehen aus Calciumcarbonat, einem chemischen Verwandten des Natrons!). Wenn ihr eure Rakete auf dem Rasen startet, verwendet einen Tisch oder eine Kiste als Startrampe und legt eine Plane darunter, denn auch Pflanzen mögen Essigsäure nicht (tatsächlich wird Haushaltsessig hierzulande im Baumarkt auch als glyphosatfreier Unkrautvernichter verkauft).

Und sollte aller Vorsicht zum Trotz der Raketentreibstoff irgendwo landen, wo er nicht hin soll und ihr ihn nicht aufnehmen könnt, giesst am besten reichlich Wasser darüber (dafür stehen Giesskanne oder Eimer bereit). Denn da weder Essigsäure noch Natron noch die Produkte ihrer Reaktion giftig sind, sind sie in grosser Verdünnung für Mensch und Umwelt harmlos.

Entsorgung

Dementsprechend können die Treibstoffreste auch (am besten miteinander) mit viel Wasser in den Ausguss entsorgt werden.


Ich habe meine „Aceto“-Rakete draussen auf dem Land gestartet, weit entfernt vom nächsten Supermarkt. Und nachdem ich einige Versuche brauchte, um Anpassungen an der Antriebsdüse zu machen, ist „Aceto-3“ mit meiner letzten Natron-Portion dann endlich abgehoben – zumindest für einen Augenblick! Und dass ich dabei noch eines Rechenfehlers wegen doppelt so viel Flüssigkeit wie nötig geladen hatte, gibt Anlass zur Annahme, dass ohne Fehler noch wesentlich mehr geht:

Dies ist nur ein Beispiel dafür, was für spannende Dinge ihr mit ein paar einfachen Rechenkenntnissen anstellen könnt. Wenn eure Kinder einmal wieder fragen, warum bitteschön sie unbedingt das „Plusrechnen“ oder das Einmaleins (oder ähnliches) üben müssen, antwortet doch: „Damit ihr damit eine Rakete starten könnt“. Ich bin sicher, das tönt auch und gerade in Kinderohren spannend!

Und wenn ihr selbst eine Rakete starten lasst, erzählt uns doch nachher, wie weit sie geflogen ist!

Viel Spass wünscht

Eure Kathi Keinstein

Hast du das Experiment nachgemacht: 

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Wenn etwas nicht oder nur teilweise funktioniert haben sollte, schreibt es in die Kommentare. Ich helfe gerne bei der Fehlersuche!

Impfbuch: Das Protokoll zum Impfen

Wie funktioniert unser Immunsystem? Was passiert damit beim Impfen? Sind Impfstoffe gefährlich?

Das Titelbild zeigt mein Impfbuch – ein treuer Begleiter seit über 35 Jahren, wie der Zustand unschwer erkennen lässt. Da lässt sich erahnen, dass mir die Wertschätzung für das Impfen förmlich in die Wiege gelegt worden ist. Tatsächlich vermittelten meine Eltern mir den Gang zum „Onkel Doktor“ für den kleinen Pieks als eine Selbstverständlichkeit – das gehörte zum Leben dazu wie der Besuch beim Coiffeur. Als ich schliesslich zur Schule ging, konnte ich den Sinn des Ganzen auch selbst auf den Plakaten in der Kinderarztpraxis lesen: „Schluckimpfung ist süss, Kinderlähmung ist grausam!“

Und je mehr ich im Laufe meines Lebens über diese und andere Infektionskrankheiten erfuhr, desto dankbarer war und bin ich meinen Eltern dafür, dass sie dereinst so bereitwillig für meine Grundimmunisierung gesorgt haben. Denn damit bin nicht nur ich vor Masern, Röteln und Co geschützt, sondern muss mich auch nicht darum sorgen, solche Krankheiten auf meine kleinen Nichten oder andere (noch) nicht Geimpfte zu übertragen.

So habe ich bis meiner Impfschutz-Sammlung auch aus eigenem Antrieb Ergänzungen beigefügt, wie zum Beispiel gegen die Zecken-Enzephalitis („FSME“), nachdem ich heute in einem Verbreitungsgebiet lebe und hobbybedingt gerne durch die Botanik streife.

Aber was bewirkt so ein Impfstoff eigentlich, und wie kann er uns vor Infektionen schützen? Das verstehen Wissenschaftler heute sehr gut, da sie (nicht nur) das menschliche Immunsystem gut verstehen. Und damit auch ihr Impfstoffe verstehen könnt, möchte ich hier zunächst das Immunsystem vorstellen – anhand eines grossen Lehrbuchs für Zellbiologie [1], in welchem die Wissenschaftler ihr Wissen für uns aufgeschrieben haben:

Wie funktioniert die Immunabwehr?

Das Immunsystem unseres Körpers muss eine Vielfalt unterschiedlichster Erreger und Bedrohungen abwehren. Wie jedes wirksame Sicherheitssystem besteht es deshalb aus mehreren Verteidigungslinien, die sich gegenseitig ergänzen:

1. Angeborenes (natives) Immunsystem

Mauern und Barrieren: Der Körper als Festung

Die erste dieser Verteidigungslinien besteht aus mechanischen Barrieren, die dem Körper selbst gegeben sind: Der ganze Organismus ist von der schwer durchdringbaren Haut umgeben, die Aussen- und Innenleben strikt getrennt hält. Nähr- und Abfallstoffe werden hauptsächlich in begrenzten Bereichen (vornehmlich in Hohlräumen innerhalb des Körpers wie Mund, Atemwegen und Verdauungsorganen) ausgetauscht. In diesen Bereichen ist die Haut um dieses Austausches willen dünner und durchlässiger, aber mit Schleim (man spricht deshalb von Schleimhaut), keimtötenden Stoffen und stets nach ‚draussen‘ gerichteten Transportsystemen besonders gesichert. Zudem ist sie mit nützlichen, dort sehr willkommenen Bakterien „bemannt“.

Die meisten unerwünschten Kleinstlebewesen aus unserer Umgebung – Bakterien, Pilze oder Parasiten – bleiben so auf die Hautoberfläche beschränkt oder werden mit Schleim oder anderen Ausscheidungen gleich wieder vor die Tür gesetzt. Oder sie gehen ein, ehe sie merken, dass sie es in eine der Körperhöhlungen geschafft haben.

Einige Erreger sind jedoch findiger: Sie klammern sich an Schleimhäuten oder Flimmerhärchen fest, finden einen Weg durch Hautverletzungen oder lassen sich als blinde Passagiere von stechenden oder beissenden Tieren (vornehmlich Insekten) direkt durch die Haut befördern. Einmal im Körperinnern angekommen verstecken sie sich in körpereigenen Zellen, indem sie – wie manche Bakterien – sich absichtlich von ihnen „fressen“ lassen, sich durch die Zellwand oder andere Barrieren bohren – wie Parasiten – oder, wenn es sich um Viren handelt, ihr Erbgut in die Zelle schmuggeln.

Alarmanlage: Das Komplementsystem

Mikroorganismen sind glücklicherweise grundlegend anders gebaut als Menschenzellen: So gibt es Proteine, die „fremde“ Muster und Bauweisen erkennen können und Alarm schlagen, wenn ihnen Befremdliches begegnet. Dieser Alarm äussert sich in einer typischen Entzündungsreaktion (Rötung, Schwellung, Schmerzen/unangenehmes Empfinden,..). Im Zuge dieses Alarms werden Giftstoffe freigesetzt, welche die Zellhüllen der Eindringlinge angreifen, aber auch die menschlichen Zellen in der direkten Umgebung nicht kalt lassen (daher und von vermehrter Auslastung der körpereigenen Verkehrswege durch anrückende Verstärkung rührt die Entzündung). Ausserdem ruft der Alarm weitere Teile des Immunsystems auf den Plan.

Die Gesamtheit der an dieser Alarmanlage beteiligten Stoffe wird „Komplementsystem“ genannt. Teile eines solchen Komplementsystems findet man auch in Pflanzen. Somit können auch Pflanzen beim Eindringen von Erregern im betroffenen Bereich in Verteidigungsbereitschaft gehen. Allerdings fehlen ihnen die weiteren Verteidigungslinien, die sich erst in den evolutionsgeschichtlich jüngeren Tieren und Menschen entwickelt haben.

Schnelle Eingreiftruppe: Zellen für die unspezifische Abwehr

Die Zellen des Immunsystems werden als weisse Blutzellen oder „Leukozyten“ (dasselbe auf griechisch) zusammengefasst. Eine Beschreibung dieser Zellen nach Zellsorten findet ihr in dieser Geschichte über die spannendste Chemikalie der Welt: Das Blut.

Der Alarm des Komplementsystems reisst nun zunächst die weissen Zellen in der unmittelbaren Umgebung aus ihrem inaktiven Dasein. Im Gewebe werden so die ‚Makrophagen‘ (griechisch für grosse Fresszellen), in den umliegenden Blutgefässen die ’neutrophilen Granulozyten‘, kleinere Fresszellen, geweckt und machen Jagd auf die Erreger.

links: Neutrophiler Granulozyt, rechts: Makrophage
Links: Mikroskop-Aufnahme eines Neutrophilen Granulozyten (nebst roten Blutzellen) bei deutlich stärkerer Vergrösserung als die Aufnahme eines Makrophagen einer Maus rechts. Makrophagen nutzen ihre tentakelartigen Ausstülpungen zum Einfangen ihrer ‚Beute‘. (Bild rechts by Obli at English Wikipedia (Transferred from en.wikipedia to Commons.) [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons

Die Fresszellen erkennen die Eindringlinge an ihrem „fremden“ Muster, fressen sie auf und verdauen sie anschliessend. Dabei sterben die kleineren ‚Neutrophilen‘ meist ab, während die Makrophagen mehrere Mahlzeiten verkraften können. Die Zell-Leichenberge, die von einem Grosseinsatz von ‚Neutrophilen‘ übrig bleiben, erscheinen unserem blossen Auge dann als Eiter.

Spezialmassnahmen gegen besondere Querulanten

Manche Erreger lassen sich so aber nicht klein kriegen: Sie benutzen eine schleimige Zuckerhülle als Tarnkappe, um dem Komplementsystem zu entgehen, setzen die Entzündungs-Alarmanlage ausser Kraft, erweisen sich als unverdaulich, schalten die Verdauungssäfte der Fresszellen aus oder flüchten sogar aus deren „Magen“ und verstecken sich in ihrem Zellinnenraum.

Viren werden vom angeborenen Alarmsystem meist ohnehin nicht erkannt und können in aller Ruhe ihr Erbgut in Wirtszellen einschleusen. Dafür erkennen die Bestandteile so infizierter Zellen das fremde Erbgut häufig und legen ihre ganze Protein-Herstellung lahm, um die Virus-Vermehrung zu verhindern. Ausserdem holen sie dabei die „Flaggen“ (sogenannte I-MHC-Proteine an ihrer Oberfläche) ein, welche eine Wirtszelle als „dem Körper eigen“ kennzeichnen. So können die Spezialagenten unter den Immunzellen, sogenannte ’natürliche Killerzellen‘, die infizierten Zellen an der fehlenden Beflaggung erkennen und mitsamt dem Viren-Erbgut zum Absterben bringen.

Die angeborene Immunabwehr ist damit nicht auf bestimmte Eindringlinge ausgelegt. Sie reagiert auf alles Fremde, und das sehr schnell. Schliesslich soll sie kleinere Angriffe schon im Keim ersticken. Allerdings können manche Angreifer auch diese Verteidigungslinie durchdringen. Besonders bei grösseren Angriffen auf einen komplexen Wirbeltier- bzw. menschlichen Organismus ist die unspezifische Abwehr schnell überfordert.

Deshalb haben Menschen und andere Wirbeltiere eine dritte Verteidigungslinie entwickelt – und auf die kommt es beim Impfen letztlich an.

2. Erworbenes (adaptives) Immunsystem

Das Sondereinsatzkommando: T-Lymphozyten

Das Alarmsystem des angeborenen Immunsystems aktiviert auch das adaptive, das heisst, das anpassungsfähige oder „lernende“ Immunsystem. So können Fress- und andere Zellen Bruchstücke ihrer Mahlzeit auf ihrer Oberfläche zur Schau stellen. Diese „Antigen-präsentierenden Zellen“ werden damit regelrecht zu wandelnden Litfasssäulen, an welchen andere Zellen die Art der Bedrohung ablesen können. Die Meldereiter unter den Antigen-präsentierenden Zellen sind die sogenannten ‚dendritischen‘ (also verästelten) Zellen, die vom Schlachtfeld um die einfallenden Keime in den nächsten Lymphknoten wandern, um den dort ansässigen T-Lymphozyten ihre Beute zu zeigen.

Dendritische Zelle
Mikroskop-Aufnahme einer dendritischen Zelle. Die feinen Verästelungen haben dieser Zellsorte zu ihrem Namen verholfen. (By Judith Behnsen, Priyanka Narang, Mike Hasenberg, Frank Gunzer, Ursula Bilitewski, Nina Klippel, Manfred Rohde, Matthias Brock, Axel A. Brakhage, Matthias Gunzer [CC BY 2.5], via Wikimedia Commons)

Die T-Lymphozyten sind eine Sammlung von Spezialisten, einer (oder wenige) für jedes nur erdenkliche Antigen. Wenn eine dieser Zellen ihr persönliches Feindbild auf der Anzeige eines dendritischen Meldereiters erkennt, fängt sie an, sich zu vermehren. Je nach Art des Spezialisten entstehen dabei in den Lymphknoten T-Killerzellen, die sich auf den Weg zum Schlachtfeld zu machen, um „ihre“ Feinde auszuschalten bzw. T-Helferzellen, die die verschiedenen Beteiligten an der Abwehr-Schlacht koordinieren.

Lymphozyt unter dem Elektronenmikroskop
Elektronenmikroskop-Aufnahme eines Lymphozyten. Inaktive B- und T-Lymphozyten lassen sich äusserlich nicht voneinander unterscheiden. Erst wenn diese Zellen alarmiert werden und ihre Arbeit aufnehmen, entwickeln sie und ihre Nachkommen eine eindeutige und an ihre jeweilige Aufgabe angepasste Gestalt.

Spezialagenten mit Langzeitgedächtnis: B-Lymphozyten

Ausserdem wird der Alarm an weitere Spezialisten im Knochenmark weitergereicht: Aus B-Lymphozyten gehen dort B-Effektorzellen (auch als Plasmazellen bekannt) hervor, welche vom Knochenmark aus massenhaft (bis zu 2000 pro Zelle und Sekunde!) Antikörper gegen „ihr“ Antigen in die Welt setzen. Diese Antikörper sind Proteine, die exakt auf den jeweiligen Angreifer zugeschnitten sind und mit dem Blut durch den Körper geschwemmt werden, bis sie am Schlachtfeld ankommen. Dort heften sie sich an „ihre“ Antigene, markieren diese für die Fresszellen deutlich erkennbar als Feinde und verkleben die Erreger überdies noch miteinander, sodass die Fresszellen den ganzen Haufen schliesslich nur noch aufräumen müssen

Antikörper - Modell
Darstellung der Moleküloberfläche eines Antikörpers. Ein solches Protein besteht aus einer langen und schweren (blau) sowie zwei kürzeren und leichten (grün) Aminosäureketten. Die beiden zweifarbigen Enden des „Y“ können sich an je eines ihrer ‚persönlichen‘ Antigene heften und diese so aneinander kleben.

Zudem bringen die ursprünglichen B- und T-Lymphozyten die B- und T-Gedächtniszellen hervor. Diese hochtrainierten Spezialisten für ‚ihr‘ Antigen sind äusserst langlebig: Sie können viele Jahre oder sogar ein ganzes Menschenleben überdauern! Bei neuerlichem Kontakt mit ‚ihrem‘ ganz eigenen Feind können sie zudem sehr schnell viele neue Effektorzellen hervorbringen, die diesem Angreifer im Handumdrehen den Garaus machen – noch ehe der Besitzer des infizierten Körpers wirklich bemerkt, was vor sich geht! Hinzu kommt, dass auch einige der Plasmazellen ein langes Leben haben und während diesem laufend Antikörper ausschütten können. Diese sind dann jederzeit und allerorts zur Hand, wenn ein bekannter Erreger erneut auftaucht, und verhelfen den Fresszellen der angeborenen Verteidigung zu einem schnellen wie effektiven Gegenschlag.

So wird bei einem Angriff auf den Körper stets nur der Teil des adaptiven Immunsystems aktiviert (beim Erstkontakt dauert es in der Regel ein paar Tage, bis dessen volle Leistung erreicht ist), der auf die vorliegende Bedrohung spezialisiert ist. So werden die Ressourcen des Organismus optimal genutzt. Ausserdem „lernt“ das adaptive Immunsystem mit der Zeit, worauf es schnell und heftig zu reagieren hat. Denn die Antwort der Gedächtniszellen auf eine Bedrohung geht – ganz abgesehen von dem Vorsprung durch bereits vorhandene Antikörper – wesentlich schneller vonstatten als die ‚jungfräulicher‘ Lymphozyten bei einem Erstkontakt.

Wie fehlerfrei ist das Ganze?

Ein dermassen effektives Abwehrsystem darf natürlich keine Fehler machen. Das heisst, es darf nur auf Angreifer reagieren, und nicht etwa auf die Vielzahl körpereigener Stoffe oder harmloser Mitbewohner, die wir alle in uns tragen. Deshalb durchlaufen Lymphozyten an ihrem Entstehungsort (B-Zellen entstehen im Knochenmark („bone marrow“), T-Zellen in der Thymusdrüse) eine strenge Qualitätskontrolle und werden angepasst oder sofort verschrottet, wenn sie in der „Testphase“ auf irgendwelche körpereigenen Stoffe, sogenannte „Selbst-„Antigene, reagieren. Das trifft übrigens die allermeisten heranwachsenden Lymphozyten, sodass nur die Besten der Besten unter ihnen im Immunsystem zum Einsatz kommen.

Als zweite Sicherung ist das adaptive Immunsystem redundant gestaltet: Für die ordnungsgemässe Aktivierung von Lymphozyten braucht es zusätzlich zum abgelesenen Antigen ein allgemeines Signal aus dem angeborenen Infektions-Alarmsystem. Wer wegen irgendetwas unruhig wird, ohne dass Infektionsalarm gegeben ist, wird so bei seiner Aktivierung sofort ausser Gefecht gesetzt und postwendend entsorgt.

Doch manchmal macht das adaptive Immunsystem trotz allem Fehler.

Wenn es dabei ein eigentlich harmloses Molekül als Angreifer erachtet, äussert sich so ein Fehler als Allergie: Allergene bleiben dabei ebenso im „Gedächtnis“ wie andere Antigene, sodass das Immunsystem bei jedem neuen Kontakt damit einen neuen Gegenschlag (allergische Reaktion) ausführt.

Wenn trotz aller Vorsicht Lymphozyten oder andere weisse Zellen auftreten, die Bestandteile des eigenen Körpers als feindlich ansehen, ist die Folge eine sogenannte Autoimmunerkrankung – denn was immer die fehlgeleiteten Zellen angreifen, kann seine Funktion nicht mehr erfüllen, was den Betrieb im Körper stört und schlimmstenfalls unmöglich macht.

Zu den Autoimmunkrankheiten zählt zum Beispiel der Diabetes mellitus Typ 1, im Zuge dessen fehlgeleitete Immunzellen die Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse angreifen und zerstören, sodass diese das lebensnotwendige Hormon Insulin nicht mehr herstellen können. So muss ein Typ-1-Diabetiker dieses Hormon einnehmen (in der Regel spritzen oder mit einer Pumpe zuführen), damit sein Zuckerstoffwechsel ordnungsgemäss funktionieren kann.

Wie macht man sich das adaptive Immunsystem beim Impfen zu Nutze?

Viele Erreger, die durchtrieben genug sind, um die angeborene Abwehr zu durchdringen, mischen die Körperfunktionen so gehörig auf, dass wir uns krank fühlen. Das rührt zum Einen von der Entzündungsreaktion im Zuge der Schlacht mit dem angeborenen Immunsystem her. Wir spüren diese Schlacht in Form von Schwellungen, Rötung, Schmerzen, ggfs. Eiterbildung, und manchmal Fieber (die erhöhte Temperatur soll es den Angreifern im Körper ungemütlich machen und die Verteidiger auf Trab bringen). Zum Anderen verursachen Manipulationen durch die Erreger selbst oder von ihnen freigesetzte Giftstoffe uns Unannehmlichkeiten, wie z.B. Durchfall, Husten oder eine laufende Nase – alles, was die sich vermehrenden Keime auf möglichst viele neue Wirte verteilen kann, oder den Erregern anderweitig bei der Besiedelung des Körpers hilft.

Das alles funktioniert, weil die Antwort des adaptiven Immunsystems auf einen Erstkontakt einschliesslich der Botengänge zu den Lymphorganen, Signalübermittlung und Verarbeitung sowie Wanderung bzw. Zirkulation zum Schlachtfeld Zeit braucht. In dieser Zeit können die Erreger, welche die Hürde der angeborenen Abwehr nehmen, sich in (fast) aller Ruhe vermehren und Gift ausschütten.

Wenn ein Erreger jedoch bekannt ist, sorgen die entsprechenden Gedächtniszellen für die Bereitstellung einer besonders schnellen Eingreiftruppe, während der Antikörpervorrat im Blut den angeborenen Verteidigungskräften zu einem entscheidenden Vorteil verhilft. So können bekannte Erreger oft eliminiert werden, bevor sie Gelegenheit haben, ihren Wirt sonderlich krank zu machen – der Wirt erfährt „Immunität“.

Da liegt es nahe, dem adaptiven Immunsystem mit einer Erstinfektion auf die Sprünge zu helfen, die weniger oder gar nicht krank macht. Und dazu hat man mehrere Möglichkeiten entwickelt:

  • Man züchtet einen Erregerstamm, der seine krankmachenden Eigenschaften verloren hat. Das kann z.B. ein Bakterienstamm sein, der kein Gift produziert, oder ein Virenstamm, dessen Zell-Invasions-Werkzeug nicht funktioniert. Solch einen Impfstoff nennt man Lebendimpfstoff ( auch wenn der Begriff bei Viren, die ja nicht wirklich leben, nicht so ganz passt). Laut Impfpass waren meine Impfdosen gegen Masern, Mumps, Röteln und Kinderlähmung in den 1980ern und 1990ern von dieser Sorte und „halten“ ein Leben lang.
  • Man erzeugt Bruchstücke von Erregern, die als solche erkannt werden, aber nicht funktionstüchtig sind, z.B Fetzen von Bakterien-Aussenhaut mit feindlichem Muster oder ebensolche Virenhüllenteile ohne Inhalt. Solche Bruchstücke nennt man Totimpfstoffe – sie haben gegenüber Lebendimpfstoffen den Vorteil, dass sie nicht durch spontane Mutationen zu wieder funktionsfähigen Erregern für böse Überraschungen sorgen können. Dafür müssen Impfungen mit Totimpfstoffen regelmässig (alle 1 bis 2 Jahrzehnte) wiederholt werden, um den Impfschutz aufrecht zu erhalten. Heutzutage wird gegen Kinderlähmung – wie gegen vieles andere auch – mit einem Totimpfstoff geimpft.
  • Wenn der Wirt bereits (möglicherweise) mit einem Erreger in Kontakt gekommen ist, gibt es eine Express-Lösung: Man spielt die Rolle der langlebigen Plasmazellen und verabreicht fertige Antikörper gegen den jeweiligen Erreger. Solch ein Passiv-Impfstoff kann eine bereits begonnene Infektion im Keim ersticken, bietet aber – im Gegensatz zu den beiden aktiven Impf-Methoden – keinen Langzeitschutz. Bekannt sind Passiv-Impfungen gegen Tetanus oder Tollwut, die unmittelbar nach einer infektionsgefährdeten Verletzung verabreicht werden.

Verabreicht man einem Menschen einen Aktiv-Impfstoff, z.B. in den Schulter- oder Oberschenkelmuskel gespritzt, löst dieser eine Antwort des adaptiven Immunsystems einschliesslich der Prägung von Gedächtnis- und ggfs. dauerhaft antikörperliefernden Plasmazellen aus – im Idealfall ohne die Auswirkungen einer grösseren Schlacht mit sich ausbreitenden Krankmachern. Wenn später der wahre Erreger auftaucht, schlägt ihm direkt die scharfe Antwort des trainierten Immunsystems entgegen und gibt ihm keine Gelegenheit, grosses Unheil anzurichten.

Der Passiv-Impfstoff kommt hingegen einer Immunantwort auf einen Erstkontakt zuvor: Anstatt dass nach der Infektion auf die Bereitstellung von Plasmazellen gewartet werden muss, sind die gespritzten Antikörper sofort verfügbar und unterstützen das schnellere angeborene Immunsystem sowie die anlaufende adaptive Abwehr bei der Eindämmung der Infektion, bevor die Erreger sich ausbreiten können.

Wie sicher sind solche Impfstoffe?

Die Statistiken von Gesundheitsbehörden zeigen eindrücklich, dass Impfungen funktionieren: Nach der Einführung von Impfprogrammen sind die Fälle der entsprechenden Infektionskrankheiten dramatisch zurückgegangen.

Registrierte Masern - Fälle in den USA
Registrierte Masern-Fälle in den USA vor und nach der Einführung des ersten Masern-Impfstoffes: Innerhalb von 4 Jahren nach dem Start des Impfprogrammes gegen die Masern bricht die Anzahl der Masern-Infektionen von rund einer halben Million auf wenige 10’000 ein und strebt nach kleineren Epidemien fortwährend gegen 0! (Quelle: CDC – Centers for Disease Control and Prevention)

Dabei sind und enthalten Impfstoffe natürlich Fremdstoffe aus Sicht des menschlichen Körpers – wie andere Medikamente, Kosmetikartikel, Nahrungs(ergänzungs)mittel und -zubereitungen und viele andere Gebrauchsgüter, mit denen unser Körper in Kontakt kommt, auch!

Über die nahe Verwandschaft zwischen solchen Fremdstoffen natürlichen und synthetischen Ursprungs habe ich hier ausführlich geschrieben, während der Chemische Reporter sich mit Thiomersal, einer zu Unrecht besonders verrufenen Beigabe zu Impfstoffen, beschäftigt hat.

Und wie bei allen anderen Natur- und Kunstprodukten kann sich das Immunsystem auch bei einem Impfstoff-Bestandteil irren und eine allergische Reaktion vom Stapel lassen. Das kommt aber sehr, sehr selten vor. Und für den seltenen Notfall gilt: Wer impft, muss alles zur Hand und das nötige Wissen haben, um einen lebensgefährlichen allergischen Schock behandeln zu können.

Um solche und andere böse Überraschungen wie spontan zurückmutierende Lebendimpfstoffe zu vermeiden, werden auch im Gebrauch befindliche Impfstoffe laufend überprüft (durch Rückmeldungen impfender Ärzte an damit beschäftigte Institute), weiter entwickelt und sicherer gemacht.

Darüber hinaus ist jeder menschliche Körper und damit jedes Immunsystem einzigartig, sodass auch jeder einzigartig auf die vorgegaukelte Infektion reagiert. Deswegen empfehlen Ärzte, kurz nach einer Impfung grosse körperliche Belastungen zu meiden. Trotzdem bekomme ich beispielsweise von der Wirkung der meisten Impfstoffe gar nichts mit – einzig Hepatitis-Impfdosen zogen eine leichte Schwellung und Druckempfindlichkeit der Einstichstelle nach sich. Solche leichten Infektionsanzeichen, in manchen Fällen auch mit leichtem Fieber und Krankheitsgefühl, sind normal – und allemal besser als eine ausgewachsene Infektion mit all ihren Spätfolgen.

Und die anderen Nebenwirkungen?

Immer wieder werden Impfstoffen und ihrer Verwendung die abenteuerlichsten Nebenwirkungen zugeschrieben – von der Förderung der Entstehung von Autoimmunerkrankungen wie Diabetes Typ 1 über Krebs bis hin zu wirklich abwegig erscheinenden Zusammenhängen zu Krankheitsbildern wie Autismus.

Aber warum sollte eine vorgetäuschte Infektion mit „zahnlosen“ oder toten Erregern bzw. ihren Bruchstücken mehr bewirken als die eigentliche Infektionskrankheit? Es überrascht nicht, dass zahlreiche Studien in Folge solch abenteuerlicher Hypothesen diese Annahmen nicht bestätigen konnten. Im Deutschen Ärzteblatt gibt es eine verständliche Zusammenfassung dieser Ergebnisse.

Dem gegenüber stehen zahlreiche fatale, teils tödliche „Nebenwirkungen“, die mit den eigentlichen Infektionskrankheiten und auch ihrer Behandlung einher gehen.

So gibt es Viren, die Krebs auslösen können – wie zum Beispiel Hepatits-B-Viren (HBV) und einige Stämme des HPV (human papilloma virus), einem Auslöser für Gebährmutterhalskrebs. Mit einer Impfung gegen solche Viren kann Krebserkrankungen sogar vorgebeugt werden!

Gefährliche Hirnentzündungen z.B. in Folge von Masern, lebenslange Verkrüppelung nach Polio („Kinderlähmung“) und die Schädigung ungeborener Kinder im Mutterleib durch Röteln sind nur einige weitere Beispiele für die wirklich dramatischen Folgen von Infektionen, die mit einem gezielten Training des Immunsystems durch Impfstoffe verhindert werden können.

Überdies ziehen viele „wirkliche“ Infektionskrankheiten Behandlungen, auch mit Medikamenten, nach sich – einige davon lebenslang. Gegen bakterielle Infektionen werden Antibiotika eingesetzt, gegen Viren antivirale Medikamente und mehr. Und all diese Medikamente und Therapien haben ganz eigene Nebenwirkungen und Zusatzstoffe, die ihrerseits – nicht immer unberechtigt – Kritik hervorrufen. Ist allein dahingehend „der kleine Pieks“ mit einer kleinen, weitgehend sicheren Dosis nicht das kleinere Übel?

Fazit

Das menschliche Immunsystem besteht aus mehreren Verteidigungslinien aus verschiedenen Zellen und Molekülen, die die meisten ungebetenen Gäste, wie Bakterien, Viren und Parasiten, in gemeinschaftlichem Kampf abwehren. Einige dieser Keime haben jedoch gelernt, diese Verteidigung zu durchbrechen, die Körperfunktionen zu stören und schwere, teils lebenslang spürbare Schäden zu verursachen.

Bemerkenswert sind deshalb die äusserst langlebigen Zellen des adaptiven Immunsystems, die auf bestimmte Erreger spezialisiert sind und Informationen über ‚ihre‘ Feinde jahrzehnte- oder gar lebenslang speichern können, um gefährliche Angreifer künftig schneller und hochwirksam auszuschalten.

Mit Impfstoffen ist es möglich, gezielt solche Informationen in den Gedächtnis-Zellen zu hinterlegen, ohne dass der Körper dazu die jeweilige Krankheit durchmachen muss. So können nicht nur Menschen vor den Folgen schwerer Infektionen geschützt, sondern auch ganze Erregerstämme, die keinen anfälligen Wirt zur Vermehrung finden, ausgerottet werden. Und das Ganze ist mit sehr wenigen Medikamentengaben bei einem verschwindend geringen Risiko folgenschwerer Nebenwirkungen möglich!

Diese spannende und überaus nützliche Errungenschaft der modernen Medizin lässt sich damit frei nach Neil Armstrong beschreiben: „Das ist ein kleiner Pieks für den Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit.“

Als Schmankerl zum Abschluss habe ich hier die Darstellung des Immunsystems in der Zeichentrickserie „Es war einmal…das Leben“ aus dem Jahre 1986 aufgestöbert:

Wer erkennt die im Artikel beschriebenen Zelltypen und Moleküle wieder? Aber Achtung: Die Darstellung in der Serie enthält Fehler (möglicherweise aus dramaturgischen Gründen)! Wer findet sie?

Und lasst ihr euch auch impfen? Wie gut ist euer Impfbuch gefüllt? Oder weshalb könnt bzw. wollt ihr euch nicht impfen lassen?

[1] B.Alberts, A.Johnson, J.Lewis, M.Raff, K.Roberts, P.Walter: Molekularbiologie der Zelle. Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 2004

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Ein Bergarbeiterdorf unweit des Bartlett Mountain, Bundesstaat Colorado, USA, 1916. Missmutig blinzelt John Doe in die bereits hoch am Himmel stehende Sonne. Eigentlich sollten er und seine Kumpel längst unter Tage sein, Erz schürfen und Geld verdienen, um ihre Familien zu ernähren. Doch in der Mine läuft längst nichts mehr, wie es sollte. Nicht nur, dass das Zeug, das sie aus dem Berg holen, niemand haben will – inzwischen wagen die Kumpel kaum noch, ihre Frauen und Kinder allein über Tage zurück zu lassen. Zu gross ist die Angst, dass die Schlägertrupps wieder auftauchen und das traute Heim in einen Scherbenhaufen verwandeln – oder gar schlimmeres tun.

Und das alles wegen… es klingt wie ein Fluch, wenn John Doe den Namen des verwünschten Metalls, das ihm statt einem Lebensunterhalt die Hölle auf Erden beschert, über die Lippen bringt: Molybdenum – „Molly be damned!“

Molybdän ist eigentlich ein überaus nützliches Metall. Und eigentlich spricht man es im Englischen „Moh-lib-dieh-num“ und nicht „Mollyb-dennum“ bzw. „Molly be damned“ aus. Den Minenarbeitern in Colorado war das allerdings einerlei. Sie wünschten sich vielmehr, dass man dieses Metall im Bartlett Mountain nie gefunden hätte. Denn sie mochten sich nicht vorstellen, warum ein Metall, das bislang keiner haben wollte, plötzlich solche Begehrlichkeiten weckte, dass es ihnen den Geschmack des Weltkriegs bis vor die Haustür brachte.

Dabei war der Auslöser des Konflikts um „Molly be damned“ gar nicht mal so neu, wie viele dachten.

 

Molybdän- ein nützliches Metall

Schon im 14. Jahrhundert entdeckte ein japanischer Meisterschmied, dass die Zugabe von Molybdän zu seinem Rohmaterial einen Stahl hervorbringt, aus dem sich Samurai-Schwerter fertigen liessen, die über die Massen hart waren und nicht rosteten. Jener Schmied hütete das Geheimnis seines „Super-Stahls“ jedoch so akribisch, dass er es schliesslich für über 500 Jahre mit ins Grab nahm.

Erst nach der Wiederentdeckung seiner nützlichen Eigenschaften Anfang des 20. Jahrhunderts härtet Molybdän nicht nur Stähle, sondern wird dank seiner überaus hohen Schmelztemperatur auch in stromführenden Drähten und Folien in Halogenlampen verwendet. Damit steht es dem klassischen Material für Glühdrähte, dem noch höher schmelzenden Wolfram (im Periodensystem direkt unter Molybdän anzutreffen!) in wenig nach.

Heute weiss man zudem, dass Molybdän als Spurenelement für nahezu alle Lebewesen unverzichtbar ist: Seine Ionen sind Bestandteil verschiedener Enzyme, die dafür geschaffen sind, auf einfache Weise Elektronen von einem Molekül auf ein anderes zu übertragen und so in lebenden Wesen Redox-Reaktionen zu ermöglichen. Diese sind zum Beispiel nötig, damit Pflanzen den Stickstoff in der Luft in nützlichere Verbindungen wie Ammoniak und Nitrate umwandeln können (Mehr zum Stickstoff-Kreislauf könnt ihr in der Geschichte zu den Stoffkreisläufen im Glas nachlesen) .

 

Eine Mine, die die Welt (noch) nicht braucht

Von all dem wusste man allerdings noch nichts, als vor dem ersten Weltkrieg ein Einheimischer am Bartlett Mountain Erz entdeckte und in der Hoffnung auf verkäufliches Blei oder Zinn einen Claim absteckte. Zu seinem Unglück entpuppte sich „sein“ Metallvorkommen jedoch als damals fast nutzloses Molybdän, das abzubauen seinerzeit mehr kostete als der Verkauf des Erzes einbrachte. So zögerte der erste Eigner des Claims nicht lange, als sich ihm die Gelegenheit bot, seine Schürfstätte an den Unternehmer Otis King aus Nebraska zu verkaufen, der mit einer neuartigen Schürftechnologie aufwarten und das Molybdän damit gewinnbringend verkaufen konnte.

In aller Begeisterung für die neue Technik und den erfolgreichen Abbau an der, wie sich zeigen sollte, grössten Molybdän-Fundstätte der Welt, übersah King jedoch eine entscheidende Kleinigkeit: Haben wollte das Metall nach wie vor kaum jemand. Und ehe er sich versah, hatte der stolze Minenbesitzer fast 3 Tonnen Molybdän auf den Markt gebracht – um dann festzustellen, dass die Welt im Jahr nur 2 davon brauchte. So drohte Kings Geschäftsidee zunächst an fehlender Nachfrage zu scheitern. Da seine Schürftechnik als solche jedoch funktionierte, war diese Neuheit am Bartlett Mountain der US-Regierung 1915 zumindest eine Erwähnung im amtlichen Bergbau-Fachblatt wert.

 

Ein Krieg am anderen Ende der Welt

Indessen tobte im fernen Europa der erste Weltkrieg, in welchem sich unter anderem die westlichen Alliierten (damals noch ohne amerikanische Beteiligung) erbitterte Schlachten mit dem deutschen Kaiserreich lieferten. Zu den am meisten gefürchteten Waffen der Deutschen zählte dabei die „dicke Berta“, eine gewaltige, 43 Tonnen schwere Belagerungskanone, die eine Granate von einer Tonne Gewicht binnen Sekunden über eine Distanz von rund 15 Kilometern schoss.

Die enormen Ausmasse dieser Kanonenrohre und das gewaltige Gewicht ihrer Munition bargen allerdings ein ebenso gewaltiges Problem: Um derart grosse Massen schnell in Bewegung zu setzen, braucht es Unmengen Energie – die in einer Kanone stets in Begleitung einer grossen Menge Wärme frei wird. So war es unvermeidlich, dass die rund sieben Meter langen Kanonenrohre der „dicken Berta“ schnell weich wurden – selbst bei nur wenigen Schüssen in einer Stunde –  und sich schon nach einigen Tagen des Bombardements unwiederruflich verzogen.

Und dieser Umstand machte den Nutzen einer Riesenkanone, deren Montage am Einsatzort 6 Stunden Arbeit von 200 Mann erforderte und innerhalb kürzester Zeit unbrauchbar wurde, mehr als fraglich.

 

Das Geheimnis des Superstahls wird gelüftet

Allerdings hatten die Schöpfer der „dicken Berta“ beim Deutschen Stahlriesen Krupp bald eine Lösung für dieses Problem vor Augen. Denn sie hatten das Geheimnis des „Super-Stahls“ wiederentdeckt, welches der japanische Meisterschmied einst mit ins Grab genommen hatte: Molybdän. Als Beigabe zum Stahl erhöht das Metall, dessen Schmelzpunkt rund 1100°C über dem von Eisen – dem Hauptbestandteil von Stahl – liegt, dessen Temperaturbeständigkeit und Härte ungemein.

Das lässt sich damit erklären, dass Molybdän-Atome grösser sind als die des Eisens, sodass mehr Energie nötig ist, um sie zur Schwingung anzuregen, und dass sie mehr Elektronen besitzen als Eisen-Atome, sodass die Molybdän-Atome nicht nur unbeschadet mehr Wärme absorbieren, sondern auch wie durch zahlreichere Verstrebungen fester miteinander verbunden werden können. Eingebettet zwischen Eisen-Atomen im Stahl bewirken die fest „verstrebten“ Molybdän-Atome überdies, dass sich die Atome des Stahls weniger leicht gegeneinander bewegen lassen, sodass sich das Metall auch bei starken Temperaturänderungen, die solche Verschiebungen bewirken können, weder verzieht noch spröde wird.

So sollte molybdänhaltiger Stahl der „dicken Berta“ Rückgrat verleihen – wenn man es denn auftreiben konnte. Denn die deutsche „Metallgesellschaft“, ein wahrer Bergbau-Gigant mit Sitz in Frankfurt am Main, betrieb zwar Minen, Hütten und Zweigstellen rund um den Globus, aber eine Molybdän-Fundstätte war nicht darunter. Dafür las man in der Zweigniederlassung „American Metal“ in New York das amtliche Mitteilungsblatt der US-Regierung und stiess so auf die weltweit einzige Fundstelle für Molybdän – am Bartlett Mountain, wo Otis King auf seiner praktisch bankrotten Mine sass.

 

Die Schlacht am Bartlett Mountain

Das deutsche Militär war im festgefahrenen Krieg auf jeden Vorteil dringend angewiesen, sodass das „Wundermetall“ zur Härtung der dicken Berta auf schnellstem Wege die weite Reise über den Atlantik antreten sollte. So entsandte die Metallgesellschaft ihren besten Agenten in Colorado, Max Schott, dem ein „geradezu hypnotisch durchdringender Blick“ nachgesagt wurde, um King zur Aufgabe seiner Mine zu drängen.

Als dieser jedoch zögerte seinen Besitz abzutreten – weil er den Grund für das Interesse der Deutschen an „seinem“ Molybdän ahnte, welcher noch niemandem sonst in den Sinn kam -, sandte Schott seine Schergen, um Druck zu machen. Diese Schlägertrupps bedrängten King, seine Arbeiter und deren Familien, zerstörten mitten im bitterkalten Winter deren Unterkünfte – sie taten alles bis an die Grenze zu vorsätzlichem Mord, um die Arbeit in der angeschlagenen Mine zu behindern. Während die Minenarbeiter das Metall, das sie kaum mehr zu schürfen wagten, als „Molly be damned“ verfluchten, drängten die Schläger King selbst im Zuge eines Überfalls über eine Klippe am Berg in einen Abgrund – wo eine Schneewehe ihm das Leben rettete und so die Gelegenheit gab, die umkämpfte Mine schliesslich für lausige 40’000 Dollar an Schott zu verkaufen.

Der Rest der Welt bekam indes von all dem nichts mit. Erst als die Briten 1916 deutsche Waffen eroberten und analysierten, stiessen sie auf das „Wundermetall“ Molybdän im Stahl. Doch selbst nach dem Kriegseintritt der USA 1917 sollte noch ein Jahreswechsel vergehen, bis man American Metal unangenehme Fragen zu stellen begann. Dort wiederum gab man an, die Mine am Bartlett Mountain rechtmässig von King erworben zu haben. Als die US-Regierung schliesslich die Geldmittel der Gesellschaft einfror und die Kontrolle über die Mine übernahm, beschossen „dicke Bertas“ aus molybdän-veredeltem Stahl bereits Paris – aus einer Distanz von rund 120 Kilometern!

 

Und am Ende siegt die Gerechtigkeit?

Nach dem Waffenstillstand zum Kriegsende ging das Unternehmen von Max Schott schliesslich bankrott, als der Molybdän-Preis erneut verfiel. Otis King kehrte in „seine“ Mine zurück – und dieses Mal sicherte er sich seinen Markt, indem er Henry Ford überzeugte, sein „Wundermetall“ in Auto-Motoren zu verbauen. Und so, wie Autos zu einem Renner wurden, wurde King zum Millionär.

Bis zum zweiten Weltkrieg sollte das ihm verwandte Wolfram – in allen Belangen noch leistungsfähiger als sein „kleiner Bruder“ – dem Molybdän den Rang ablaufen, sodass die bewegte Geschichte des verfluchten Wundermetalls weitgehend in Vergessenheit geriet.

Gefunden habe ich sie schliesslich in englischsprachigen Quellen: auf dem Blog „Speak it out“ von Delson Roche und im Buch „The Disappearing Spoon…and other true tales from the Periodic Table“ (*) von Sam Kean.

Die Molybdän-Mine am Bartlett Mountain gibt es jedoch noch heute. Wiedereröffnet als Tagebau gehört sie zur Climax Molybdenum Company und sorgt nicht nur für harten Stahl, sondern auch für (Halogen-)Licht in dunklen Stunden.

 

Und ist euch Molybdän schon einmal begegnet?